Das Sigma-Protokoll
Ärzte, Schwestern, Verwaltungsangestellte. Die kraftvolle Maschine brummte leise im Leerlauf. Obwohl es kurz nach fünf war und die Büroangestellten Feierabend hatten, waren glücklicherweise nicht zu viele Menschen unterwegs. Es dämmerte, und die Außenbeleuchtung schaltete sich ein.
Er hatte von Zürich aus angerufen und Dr. Margarethe Hubli verlangt. Man stellte ihn in die Kinderabteilung durch, wo ihm eine Schwester mitteilte, dass Dr. Hubli im Haus sei, und fragte, ob er einen Termin ausmachen wolle.
»Nein«, sagte er. »Ich wollte nur sichergehen, dass Dr. Hubli Dienst hat. Wissen Sie, mein Kind ist krank. Ist nur für den Fall, dass wir einen Arzt brauchen sollten.« Nachdem er noch gefragt hatte, wie lange Dr. Hubli Dienst habe, bedankte er sich bei der Schwester und legte auf.
Liesl hatte um vier Dienstschluss. Er wartete jetzt schon seit über zwei Stunden; Liesl hatte schon über eine Stunde Verspätung.
Ben war sich sicher, dass sie die Klinik noch nicht verlassen hatte. Außerdem stand noch ihr roter Renault auf dem Parkplatz. Ben nahm an, dass sie eine von diesen engagierten Ärztinnen war, die, ohne auf den Dienstplan zu achten, regelmäßig Überstunden machten.
Kann gut sein, dass ich hier noch einige Zeit absitzen muss, dachte er.
Die Gründungsurkunde, von der Peter gesprochen hatte, war nicht in dem Schließfach gewesen. Wo konnte sie sein? Er hatte gesagt, sie sei an einem sicheren Ort versteckt. War es möglich, dass Liesl wirklich nicht wusste, wo das Dokument war? Wenn ja, hatte es Peter dann irgendwo in der Hütte versteckt, ohne dass Liesl das ahnte?
Ihre Antwort war ihm zu schnell gekommen, als er gefragt hatte, ob Peter möglicherweise etwas in der Hütte aufbewahrte. Sie verheimlichte ihm etwas.
Er musste zur Hütte.
Vierzig Minuten später kam Liesl aus der Notaufnahme.
Sie unterhielt sich mit jemandem. Die beiden lachten. Dann winkte sie zum Abschied, zog den Reißverschluss ihrer Lederjacke hoch und lief zum Wagen. Sie stieg ein, ließ den Motor an und fuhr vom Parkplatz.
Ben wartete ein paar Sekunden und folgte ihr dann in sicherem Abstand.
In einem Reisebuchladen in Zürich hatte er eine Karte vom Kanton St. Gallen gekauft und sich schon vor der Fahrt die Straßen in der Gegend genau angeschaut. Peter wie Liesl hatten von einer >Hütte< gesprochen, in der sie lebten, woraus Ben schloss, dass sie vermutlich im Wald lag. Etwa acht Kilometer nordwestlich vom Krankenhaus begann ein Waldgebiet. Der nächste Wald war dann bereits vierzig Kilometer entfernt. Ziemlich weit für einen täglichen Arbeitsweg über enge, kurvenreiche Landstraßen. Zumal sie bei Notfällen schnell im Krankenhaus sein musste. Es war also sehr wahrscheinlich, dass die Hütte in dem näher gelegenen Waldgebiet stand.
Wenn ihn sein Gedächtnis nicht im Stich ließ, dann gab es auf den nächsten beiden Kilometern keine Abzweigung.
Falls sie allerdings in einen Feldweg einbog, bestand die Möglichkeit,
dass er sie verlor. Er konnte nur hoffen, dass sie auf der Straße blieb.
Die Straße führte jetzt steil bergauf. Als Ben die Bergkuppe erreichte, konnte er weit unter sich den Renault sehen. Er hielt an einer Ampel. Von dort fuhr sie in Richtung einer Schnellstraße mit der Nummer 10. Wenn sie auf der 10 nach links abbog, hieße das, dass sie in die von Ben vermutete Richtung wollte. Nach rechts oder über die 10 hinaus hieße, dass er sich verrechnet hatte.
Der Renault bog nach links ab.
Ben gab Gas und erreichte nur wenige Minuten später die Kreuzung. Es herrschte reger Verkehr auf der 10, sodass er es sich erlauben konnte, etwas aufzuschließen. Er war sich sicher, dass sie ihn noch nicht bemerkt hatte.
Parallel zur vierspurigen Schnellstraße verliefen Bahngleise. Ben passierte mehrere große Bauernhöfe, die von weitläufigen Äckern umgeben waren. Plötzlich bog Liesl ab - ein paar Kilometer vor der erwarteten Abzweigung.
Sie befanden sich nun wieder auf einer schmalen, kurvenreichen Straße. Es war inzwischen dunkel geworden. Außer ihm war keiner mehr hinter ihr. Unangenehm. Sie würde bald merken, dass ihr jemand folgte. Wenn es so weit war, würde sie entweder abbremsen, um zu sehen, wer ihr folgte, oder Gas geben, um ihn abzuhängen. Letzteres war wahrscheinlicher. Er hätte dann keine Wahl, als sich zu erkennen zu geben.
Glücklicherweise kamen ihm die vielen engen Kurven der Straße entgegen, so befand er sich meistens außerhalb ihres Blickfelds. Hier und da tauchten jetzt Bäume
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