Das Sigma-Protokoll
Während der Zeit, als ich da unterrichtet habe, hat es in Seven-Five mehr als hundert Morde gegeben. Bei dem Geballer nachts hast du gedacht, du wärst in Beirut. Hoffnungslos. Der Rest der Stadt hatte das Viertel schon abgeschrieben.«
»Und da warst du Lehrer?«
»Ich fand es obszön, dass es im reichsten Land der Welt ein solches Elend gibt. Dagegen kommt einem Soweto wie Beverly Hills vor. Sicher, man hat die üblichen Programme durchgezogen, aber im Grunde glaubte kein Mensch, dass das was nützt. >Da hilft sowieso nichts<. Keiner hat das laut gesagt, aber jeder hat es gedacht. Offiziell wurde über >strukturelle Probleme< oder >Verhaltensstörungen< schwadroniert. Blablabla. Mit den Schwätzern hatte ich nichts am Hut. Ich wollte nicht die Welt retten, so naiv war ich nicht. Aber ich hab mir gesagt, wenn ich nur zwei oder drei von den Kids da raushelfen kann, dann wär das schon was.«
»Und hast du das geschafft?«
»Schon möglich«, sagte Ben. Er fühlte sich plötzlich müde. »Ich war nicht mehr lange genug da, um es mitzukriegen.« Er wurde wieder lauter, seine Stimme klang jetzt höhnisch. »Stattdessen habe ich mit Kunden im Aureole gesessen, Trüffelpastetchen schnabuliert und Schampus geschlürft.«
»Hört sich an, als hätte dich das ziemlich aus der Bahn geworfen«, sagte Liesl sanft. Sie hörte aufmerksam zu - vielleicht, um sich von ihrem eigenen Schmerz ablenken zu lassen.
»Es hat mich abgestumpft. Aber das Schlimmste war: Ich war gut in dem Job. Die Rituale, wie man Kunden ködert, hatte ich perfekt drauf. Wenn du jemanden wolltest, der in den teuersten Restaurants ohne einen Blick auf die Karte bestellen konnte, dann war ich der richtige Mann. Und außerdem habe ich dauernd meinen Hals riskiert - natürlich nur zur Entspannung. Ich war ein Extremsport-Junkie. Klettern in den Vermillion Cliffs in Arizona, als Einhandsegler zu den Bermudas, Para-Skiing auf dem Cameron Pass. Courtney, eine alte Freundin von mir, war davon überzeugt, dass tief in mir eine Todessehnsucht steckt. Aber das ist es nicht. Im Gegenteil: Ich hab das gemacht, um das Leben zu spüren.« Er schüttelte den Kopf. »Hört sich bescheuert an, was? Die nutzlosen Zerstreuungen eines verwöhnten reichen Bengels, der immer noch nicht weiß, warum er sich morgens überhaupt anziehen soll.«
»Vielleicht ist das so gekommen, weil du nicht mehr das tun konntest, was du wolltest«, sagte Liesl.
»Und was war das? Ich bin mir nicht so sicher, ob verlorene Kinderseelen in East New York zu retten eine Berufung fürs Leben ist. Egal, auf jeden Fall hatte ich nicht die Chance, es rauszufinden.«
»Ich glaube, das Bild vom Segel passt auch auf dich. Du musstest nur noch den Wind dazu finden.« Sie lächelte traurig.
»Der Wind hat mich gefunden. Sieht zumindest so aus. Und gleich ein gottverdammter Monsun. Eine fünfzig Jahre alte Verschwörung, der immer noch Menschen zum Opfer fallen. Vornehmlich solche, die ich liebe. Bist du schon mal mit einem kleinen Boot in einen Sturm geraten? Ich schon. Das Erste, was du tust, ist das Segel einholen.«
»Ist das in unserem Fall eine Möglichkeit?« Sie goss ihm einen Fingerbreit Brandy in ein Wasserglas.
»Ich weiß noch nicht mal, was für Möglichkeiten wir überhaupt haben. Du und Peter, ihr konntet sicher mehr darüber nachdenken als ich. Was ist dabei herausgekommen?«
»Was ich dir schon gesagt habe. Jede Menge Mutmaßungen. Peter hat hinsichtlich der Zeit damals viele Nachforschungen angestellt. Die Ergebnisse haben ihn nicht gerade ermutigt. Der Zweite Weltkrieg hatte zwar seine klar unterscheidbaren Guten und Bösen, aber es gab trotzdem jede Menge Parteien, denen der moralische Kern völlig egal war. Zahlreiche Unternehmen waren ausschließlich daran interessiert, im Geschäft zu bleiben. Manche haben den Krieg sogar als Chance begriffen und dadurch ihre Gewinne kräftig gesteigert. Die Sieger haben sich mit dem Vermächtnis der betrügerischen Machenschaften der Großunternehmen nie ernsthaft auseinander gesetzt. Das hat nie in die politische Landschaft gepasst.« Ihr boshaftes Grinsen erinnerte Ben an Peter, an seinen permanent unter der Oberfläche brodelnden Zorn.
»Warum nicht?«
»Man hätte zu viele amerikanische und britische Unternehmen, die mit dem Feind Geschäfte gemacht hatten, wegen Kollaboration belangen müssen. Deshalb zog man es vor, diese Dinge unter den Teppich zu kehren. Dafür waren die Dulles-Brüder zuständig. Die wirklichen Kollaborateure
Weitere Kostenlose Bücher