Das Sigma-Protokoll
gemacht? Kunden doppelt abgezockt?«
Bartlett bedachte sie mit einem mitleidigen Lächeln. »Nur Amateure unterschätzen den Einfluss und die Bandbreite privater Interessen. Adler & Cooper war mehr als nur eine Kanzlei in der obersten Spielklasse. Sie hatte weitreichenden internationalen Einfluss. Dulles reiste in der Weltgeschichte herum und warf eine Art Spinnennetz über Europa aus. In allen größeren Städten rekrutierte er Verbündete. Unter den Alliierten, den Achsenmächten und den Neutralen.«
»Verbündete?«, fragte Anna. »Wie meinen Sie das?«
»Persönlichkeiten in höchsten Stellen, auf die Allen Dulles jederzeit zuverlässig zurückgreifen konnte. Kontaktmänner, Freunde, wertvolle Mitarbeiter. Diese Leute dienten ihm als Informationsquellen und Ratgeber, aber auch als Makler, die Einfluss nehmen konnten. Dulles wusste immer, wie man sich den Egoismus der Menschen zunutze machte. Er brachte eine immense Zahl von Geschäften zwischen Regierungen und multinationalen Firmen auf den Weg. Und deshalb war der Kontakt zu ihm von unschätzbarem Wert. Wenn man Geschäftsmann war, konnte er einen großen Regierungsauftrag in eine entsprechende Richtung bugsieren. Wenn man Regierungsbeamter war, konnte er mit der winzigen, aber entscheidenden Information dienen, die dich die Karriereleiter nach oben fallen ließ. Geld und Informationen
- Dulles wusste, dass man das eine gegen das andere bestens eintauschen konnte. Wie zwei Währungen, deren Wechselkurse natürlich ständigen Schwankungen unterworfen waren. Dulles’ Rolle als Mittelsmann und Zwischenhändler basierte natürlich darauf, dass er immer ein bisschen mehr wusste als jeder andere.«
»Wie hat das funktioniert?«
»Sagt Ihnen der Name >Bank for International Settlement of Basel< etwas?«
»Nein.«
»Das war im Wesentlichen ein Buchhalterbüro, das Geschäftsleute aus den Kriegsteilnehmerländern benutzen konnten, um sich über ihre Gewinnanteile zu verständigen. Eine für Geschäftsleute sehr nützliche Einrichtung. Denn das Geschäftsleben kam ja nicht zum Erliegen, nur weil die Kanonen das Feuer eröffneten. Allerdings beeinträchtigten die Feindseligkeiten die Geschäfte der multinationalen Firmen und Allianzen. Deren Aktivitäten wurden auf vielfältige Art und Weise behindert. Dulles knobelte nun Mittel und Wege aus, um diese Hindernisse zu umgehen.«
»Kein charmantes Bild, das Sie da zeichnen.«
»Das ist die Realität. Dulles glaubte an die Notwendigkeit dieses >Netzwerks<. Und das ist der Schlüssel, um zu verstehen, was er für die Mission seines Lebens hielt. Ein Netzwerk ist eine Ansammlung von Individuen mit einer komplexen Struktur. Es übt einen wesentlich größeren Einfluss aus als die Summe seiner Einzelteile. Wirklich faszinierend, wenn man sich näher damit befasst. Meine Rede seit jeher: Man landet immer beim krummen Holz, aus dem der Mensch gemacht ist.«
Anna hob eine Augenbraue. »Hört sich ein bisschen beängstigend an.«
An Bartletts Schläfe pulsierte eine Ader. »Es ist tatsächlich ein bisschen beängstigend, vielleicht sogar mehr als ein bisschen. Das Wesen dieser Netzwerke ist nämlich, dass sie für alle, die nicht dazugehören, unsichtbar sind. Sogar für manche, die dazugehören. Und sie neigen dazu, die Individuen, die sie ins Leben gerufen haben, zu überleben. Sie beginnen sozusagen ein Eigenleben zu führen. Und sie haben sehr nachhaltige Wirkungen auf die Organisationen, in die sie eindringen.« Er zupfte seine Manschetten
zurecht. »Ich habe vorhin von Spinnennetzen gesprochen. Es gibt eine seltsame parasitäre Wespe der Gattung Hymenoepimecis. Eine winzige, clevere Kreatur. Sie sticht die Spinne und legt während der anschließenden kurzzeitigen Lähmung ihre Eier im Unterleib der Spinne ab. Hinterher lebt die Spinne weiter, als wenn nichts passiert wäre, und versorgt die in ihrem Körper wachsenden Larven. In der Nacht, wenn die Larven ihre Haut abstreifen und bevor sie die Spinne töten, sondern sie eine Flüssigkeit ab, die das Verhalten der Spinne verändert. Die chemische Veränderung durch die Flüssigkeit veranlasst die Spinne dazu, einen Kokon zu spinnen, der für sie selbst nutzlos, aber für die Larve lebensnotwendig ist. Sobald die Spinne ihr Werk beendet hat, verspeisen die Larven die Spinne und nehmen den Kokon in Besitz. Wirklich außergewöhnlich, diese wohl dosierte Manipulation des Wirtverhaltens durch den Parasiten. Aber nichts im Vergleich zu dem, was sich Menschen einfallen
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