Das silberne Schiff - [Roman]
Fall eine Antwort haben wollte. »Woher kennst du Marcus?«
Sie lächelte. »Ich war früher mal seine Schülerin.«
»Worin hat er dich unterrichtet?«
»In Bewegung. Er hat zwei Jahre lang Tanz gelehrt.« Sie warf einen Blick zu Jenna. »Vor sehr langer Zeit. Bevor ihr nach Fremont aufgebrochen seid. Ich habe das erste Jahr mitgemacht, aber das zweite ging nicht mehr. Ich wollte keine Modifikation als Windleser.«
Interessant. »Man kann sie noch als Erwachsener bekommen? Ich dachte, dass man damit geboren sein muss, dass sie überwiegend in bestimmten Familien auftritt.«
Darüber musste sie lachen. »Er hat mir erzählt, dass du sehr naiv bist. Aber sie wird tatsächlich vererbt. Meistens jedenfalls. Aber wie alle Modifikationen hat sie irgendwo einen Anfang gehabt. Die Menschheit hat die Fähigkeit zur direkten Interaktion mit Daten nicht auf natürlichem Wege entwickelt. Neue Windleser werden normalerweise während der In-vitro-Phase erschaffen, aber es gibt auch eine Version für Erwachsene. Die Erfolgsquote liegt bei fünfzig Prozent.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen. Ein Fehlschlag ist irreversibel. Wenn es nicht klappt, ist man für immer geistesgestört.«
Ihre Antwort faszinierte mich. »Können Menschen, die als Windleser geboren wurden, ihre Fähigkeiten als Erwachsene verstärken lassen?«
Sie streckte die Hand nach dem Wasser aus. »Mit Übung kommt man weiter. Nicht mit mehr Nanos.«
Jenna gab ihr das Glas. »Ming, warum willst du Fremont sehen?«
Ming stemmte sich hoch und schwang die Beine über die Bettkante. Dann trank sie langsam das Wasser. Wesentlich beherrschter als bei allen anderen, die ich bisher beobachtet hatte. Es war erst ihr zweites Glas nach dem Aufwachen. »Weil der Planet wild ist und weil es auf den fünf Welten nirgendwo mehr Wildnis gibt. Wobei das aber nicht der wichtigste Grund ist.« Sie hielt inne, streckte sich erneut, und ein leichtes Lächeln verzog ihre feinen, schmalen Lippen. »Vielleicht war das sogar die falsche Antwort.« Sie suchte meinen Blick. »Marcus glaubt, dass du eine große Rolle spielst. Ich wollte bei dir sein, sehen, was es damit auf sich hat. Außerdem brauche ich dringend ein Abenteuer.« Sie nahm einen weiteren Schluck Wasser. »Die Raumhafenverwaltung langweilt mich.« Sie zuckte mit den Schultern. »Außerdem glaubt Lukas, ich wäre seinetwegen mitgeflogen. Aber ich kann notfalls zwischen ihm und euch abwägen.«
Bryan beobachtete sie aufmerksam. Er hatte seine Nägel wieder ausgefahren. Spielte er nur damit, oder war es ein Zeichen, dass er Ming immer noch misstraute?
Ich ging auf und ab. Wie ging es jetzt weiter? Ming schien uns sehr offene Antworten zu geben, aber konnte ich ihr glauben? Was würde Marcus tun? Marcus kannte sie offenbar besser, als er mir gegenüber zugegeben hatte. Immerhin hatte er genug Zeit gehabt, ihr zu sagen, dass ich naiv war.
Genau das durfte ich in diesem Moment nicht sein.
Ich blieb vor Ming stehen. Das Bett, auf dem sie saß, war so hoch, dass ihre Augen auf gleicher Höhe wie meine waren. Ich versuchte, etwas darin zu erkennen. Sie erwiderte meinen Blick abwartend. »Also erzähl mir etwas über die anderen Leute an Bord dieses Schiffs. Was hältst du von ihnen?«
Sie zuckte ganz leicht zusammen, als hätte die Frage sie überrascht. Gut möglich. Schließlich hatten wir sie nicht als blinden Passagier weggesperrt. »Vielleicht könnten wir das bei einer Mahlzeit besprechen. Gibt es hier etwas zu essen?«
Eigentlich sollte sie noch nicht hungrig sein. Andererseits hätte sie noch gar nicht wach sein dürfen. Aber nun saß sie da, bei vollem Verstand und machte einen sehr interessanten Eindruck. Sie hatte etwas an sich, und dieses Etwas sagte mir, dass ich ihr vertrauen sollte, dass ich ihr vertrauen konnte. Marcus schien genauso über sie zu denken. Aber nicht Jenna. Und ich vertraute Jenna trotz allem mehr als Marcus.
Ich rief Alicia und Tiala und fragte, ob sie die Mahlzeit, die sie zubereiteten, etwas früher als geplant servieren konnten.
Ming beobachtete mich, als ich mit ihnen sprach, und als ich fertig war, fragte sie: »Wer ist sonst noch wach?«
Jenna antwortete ihr. »Alicia und meine Schwester Tiala.«
Ming stand auf und ging mit ruhigen Schritten zur kleinen Spüle im spärlich ausgestatteten Med-Raum, um dort ordentlich ihr Glas abzustellen. Sie schien keinerlei Probleme mit der Schwerkraft an Bord der Schöpferin zu haben, die ein wenig
Weitere Kostenlose Bücher