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Das silberne Schiff - [Roman]

Das silberne Schiff - [Roman]

Titel: Das silberne Schiff - [Roman] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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mit den Händen, bis es ein wenig weicher geworden war, und steckte es ein.
    Ganz hinten erkannte ich eine kleine geschnitzte Holzschachtel. Ich zog sie hervor, hob den Deckel und sah in der roten samtartigen Auskleidung einen Datenspeicher liegen. Diesen nahm ich heraus und setzte mich damit aufs Bett.
    Der erste Datenstrom, dem ich folgte, war eine Serie von Bildern, versehen mit Name, Ort und Datum. Die Jahre hatten hohe Zahlen wie 568 oder 571. Auf Fremont hatten wir das Jahr 224 geschrieben, als wir aufgebrochen waren. Wir zählten die Jahre seit der Kolonisation von Fremont. Waren so viele Jahre seit der Besiedlung von Silberheim vergangen?
    Ich erkannte einige der Leute wieder, die meine Mutter gezeichnet hatte. Auf dem siebenten Bild waren meine Mutter und mein Vater zu sehen, etwa im Alter von fünfundzwanzig Jahren, also um die zehn Jahre älter, als ich jetzt war – beziehungsweise zum Zeitpunkt unseres Abflugs von Fremont. Sie standen an einem Geländer, beide lächelten, mein Vater hatte einen Arm um die Schultern meiner Mutter gelegt. Auf dem Bild wirkte er schlanker als auf den Zeichnungen. Vielleicht war er jünger.
    Mein Vater war groß und schmächtig und hatte Beine, die zum Rennen gemacht schienen. Vielleicht bestand seine Genmodifikation nur in der Ausprägung eines perfekten athletischen Körpers. Meine Mutter sah wie eine größere und nur ein wenig ältere Version von Chelo aus. Dünn und kräftig, mit eckigem Kinn, einem intensiven Blick, kleinen Brüsten und schmalen Hüften. Auch sie konnte offenbar gut rennen oder vielleicht auch klettern. Ihre Armmuskeln waren unter der dunkelbraunen Haut gerippt. Ihr Haar war lang und glatt und auf einer Seite zu einem Zopf geflochten. Chelo flocht ihr Haar manchmal auf die gleiche Weise, und ich fragte mich, ob eine Erinnerung an ihre Mutter der Grund dafür war. Unter dem Foto stand »David und Marissa Lee«.
    Marissa.
    Ich hatte ihren Namen nicht gewusst. Ich sprach ihn dreimal aus. »Marissa, Marissa, Marissa.« Meine Stimme verhallte in der Leere des kleinen Raumes, des größeren Besatzungsquartiers, des noch größeren Schiffs, das selbst zwischen den Sternen nur ein winziger Punkt war.
    Eine Träne fiel auf meine Hand, was mich überraschte. Ich hatte schon einmal geweint, am Fuß der Neuen Schöpfung auf der Grasebene und in der Dunkelheit der Nacht, weil sie uns im Stich gelassen hatten. Vielleicht lag es daran, dass ich mich in ihrem Zimmer befand und nun tatsächlich wusste, wie sie aussahen, dass sie ein eigenes Leben geführt hatten. Aber diese Tränen fühlten sich anders an, weil ich um sie weinte. Was hatten sie auf Fremont erlebt, was hatte es sie gekostet, uns allein zu lassen?
    Auf dem Bild blickte meine Mutter zu meinem Vater auf, als würde sie seine Nase oder die Form seines Kinns bewundern.
    Da waren noch mehr Sachen, aber vorläufig hatte ich genug mit diesem Bild zu tun.
    Ich steckte den Datenspeicher zusammen mit dem Stirnband in eine Tasche meines Pilotenmantels, nahm auch die Haarbürste meiner Mutter mit und schloss die Schränke. Dann sandte ich ein lautloses Signal an Leo, worauf er zu mir kam. Er stand auf vier Beinen und hielt die anderen beiden erhoben. Ich belohnte ihn mit einem Tätscheln für seinen Gehorsam, als hätte das für ihn irgendeine Bedeutung, und sagte: »Gute Nacht.« Diese Worte verhallten wie die anderen in der Leere. Ich rollte mich zusammen und fiel auf dem Bett meiner Eltern in einen tiefen Schlaf.
    Als ich wieder erwachte, nahm ich Leo mit, aß etwas und ging zum Schiffsbug. Bisher war ich nur einmal dort gewesen – in der Schwerelosigkeit mit Jenna. Es fühlte sich völlig anders als alles an, was ich von Fremont kannte, und man brauchte gute Mathematikkenntnisse, um sich vernünftig zu bewegen.
    Selbst hier waren die Wände der Neuen Schöpfung fensterlos und glatt. Ich konnte von Sternenzähler Daten abrufen, aber es gab keine Projektionsfläche, so dass ich jedes Video nur in meinem Kopf sah, wo es mit meiner normalen Sicht konkurrierte und mich schwindlig machte. Ich verankerte mich, indem ich meine Füße in Gurtschleifen an der Wand steckte, und nahm den Datenspeicher aus der Tasche. Es half mir, die silbrig schimmernde Oberfläche wie einen großen, harten Kieselstein zu spüren und mit den Fingern der anderen Hand darüberzustreichen. Diese Körperlichkeit erleichterte es mir, geerdet zu bleiben, gleichzeitig im Datennetz und in meinem Körper präsent zu sein. Schließlich hatte ich

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