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Das singende Kind

Das singende Kind

Titel: Das singende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Korn
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Georg.
    »Laß sie doch einfach mal alleine laufen«, sagte Jos.

Trudi guckte auf den geköpften Flachmann, der in dem dreckigen Steinbecken lag. Fuselduft kam aus dem kaputten Hals der Flasche und stieg zu ihr hoch und wurde einen Schritt weiter von einem schärferen Geruch geschlagen. Trudi trat aus der Urinlache, in der sie gestanden hatte, und ging zu dem Kiosk. Eben wollte sie noch einen glitschigen Hamburger essen, der warm gemacht werden mußte. Doch jetzt würgte sie der ganze schmutzige Bahnsteig, und sie kaufte eine von den abgepackten Bi-Fis.
    Trudi kannte inzwischen beinah alle U-Bahnhöfe der Stadt. Die schlechten und die besseren. Sie hatte viel mehr davon gesehen als Männer, denen sie nachgehen wollte. Seit Tagen war ihr keiner begegnet, der ihre Erwartung auch nur wenig erfüllte. Sie hatte die Gegend umkreist, in der Felix lebte, um einen Zufall zu erzwingen, es schließlich als Fügung genommen, daß sie nicht auf ihn traf, und sich dann entfernt.
    Trudi drückte den Salamischwengel aus der Folie und biß hinein. Die Uhr an der Anzeigetafel war um weitere fünf Minuten vorgerückt und damit eine zweite Bahn ausgefallen. Trudi stellte sich vor, daß ein Mensch auf den Schienen lag. Vor den Zug gesprungen. Zwei oder drei Stationen vor dieser. Sie setzte sich auf die Bank, neben einen Mann im hellen Staubmantel, der sich an der Aktentasche festkrampfte, die auf seinen Knien stand. Trudi betrachtete die weißen Knöchel seiner Hände, den breiten Ehering, der ihm ziemlich lose am Finger hing. Die Hände waren ihr unangenehm.
    Sie reagierte erst gar nicht auf das, was er sagte. Eine Anmache ohne Umweg. Als stünde sie an eine Hauswand gelehnt und riefe ihm ihren Preis zu. Trudi dachte an den Schein, den Georg sonntags aus einem Umschlag holte und ihr in die Hand legte. Fünfzig Mark für die nächsten fünf Tage. Ein Zehner am Tag. Samstage und Sonntage nicht eingerechnet. Da ging sie nur mit Georg aus dem Haus. Das tägliche Geld reichte gerade für das Ticket und einen Happen am Imbißstand. Das Gros der Wegzehrung zahlte Trudi vom Tausch der Hundertfrancscheine, die ihre Eltern ihr in die Briefe taten.
    Der Mann legte eine seiner unangenehmen Hände auf ihr Knie und hielt mit der anderen die Aktentasche. Trudi zog einen Moment lang die Möglichkeit in Betracht, gegen Geld mit den Männern mitzugehen. Doch nicht mit diesem. Sicher nicht mit diesem. Sie schüttelte die Hand nicht ab, stand nur auf und ließ sie von sich herunterfallen. Trudi hörte den Mann zischen. Irgendwas, das zu diesem Bahnsteig paßte. Sie sehnte sich auf einmal nach Georg und dem Geruch seiner Sauberkeit. Sie ging auf eine Gruppe sandverschmierter Kinder zu, die ihr das Sauberste im ganzen Bahnhof waren. Doch Trudi schien keinen anständigen Eindruck zu machen heute. Zwei Frauen nahmen die Kinder unter die Flügel, als drohe ihnen ein Kidnapping.
    Trudi stellte sich an die Bahnsteigkante, schob die Hände in die Taschen ihrer Jeansjacke und schaute auf die Schienen. Im Tunnel donnerte die U-Bahn. Trudi fühlte die leere Folie der Salami in der einen Tasche, holte sie heraus und warf sie so kurz vor dem herankommenden Zug auf das Gleis, daß er fast ihre Hand gestreift hätte.
    Georg holte den Umschlag aus dem Jackett eines Anzugs, den er selten trug. Guter Wollstoff. Dunkelgrau. Ein Feiertagsanzug. Er hatte ihn nach der mündlichen Prüfung für die Promotion gekauft, mittags, und dann starb sein Vater am Nachmittag, und die Feier fiel aus. Seine Mutter hatte die Todesanzeige zwei Stunden später in die Annahmestelle der Zeitung gegeben und vor Georgs Namen Dr. phil. setzen lassen. Der Anzug wurde auf der Beerdigung getragen. Mit einem Trauerflor am Ärmel. Das Grau des Stoffes war Grete Fortgang nicht dunkel genug gewesen.
    Georg nahm den Umschlag mit in sein Arbeitszimmer, setzte sich und saß eine Weile, ehe er die Scheine herauszog und auf dem Tisch auslegte. Teile eines Puzzles. Sieben Fünfziger für den Juni, der gerade erst angefangen hatte. Geld für Essen. Geld für Trudi. Geld für Jos' Geburtstagsgeschenk.
    Er schob die Scheine beiseite und sah sich die Schreibmaschine an, die hinter seiner stand. Eine elektronische, aufwendiger als die, an der er arbeitete. Georg hatte sie gebraucht gekauft. Er hoffte nur, daß Trudi sich freute. Sie sollte daran sitzen. Bänder abschreiben. Im besten Falle für zehn Mark pro Seite.
    Georg wußte, daß Trudi sich nicht freuen würde. Es ging nur darum, ihr zu verstehen zu geben,

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