Das singende Kind
wie sehr sie das Geld brauchten, ohne daß er selbst als Versager dastand. Hatte er nicht Trudis Vater versprochen, immer für sie zu sorgen? Sie zu ernähren und zu kleiden. Ihre Kunst zu loben und ihre Seele zu laben und Trudi den Anspruch zu bewahren, ein paar Zentimeter über dem Boden schweben zu dürfen.
Die Geldscheine, die da lagen, ließen ihn an die Versicherungspolicen denken, die seine Mutter auf demselben Eichentisch ausgebreitet hatte. Nichts war vorbereitet gewesen. Ein schneller Tod. Herztod. Nach vierundfünfzig Jahren Leben.
Der erstgeborene Sohn wird nur so alt, wie der Vater geworden ist, hatte Grete Fortgang gesagt. Georg, der Einziggeborene, konnte sich noch erinnern, daß er nach diesem Satz in ihren Augen die Besorgnis suchte, die nicht darin war.
»Du kannst nicht nur das tun, worauf du wild bist«, sagte Georg.
»Was ich tue und worauf ich wild bin, das sind leider völlig verschiedene Dinge«, sagte Trudi.
»Es sind nur zwei Bandseiten«, sagte Georg zu laut. Er hatte noch die Kopfhörer aufgestülpt. Die Stimme kam langsam und deutlich vom Kassettenrecorder. Er schaltete ab.
»Ich konnte kein Wort verstehen«, sagte Trudi.
Georg legte ihr den Kopfhörer hin. »Versuch es noch mal.«
»Brauchen wir das Geld so dringend?«
Georg stand auf und ging um den Tisch herum zum Fenster. »Ach was«, sagte er.
»Ich kann mir ein Repertoire aufbauen. Leichte Lieder.« Trudi sprach Georgs Rücken an. »Keine Bar, vielleicht finde ich ein paar Musiker, die auf Veranstaltungen auftreten.«
»Nein«, sagte Georg.
»Ganz sauber. Ich will es sauber haben.«
Georg drehte sich zu ihr um. Trudi kaute an einer ihrer Locken, die sich aus dem flüchtig hochgesteckten Haar gelöst hatte. »Was meinst du damit?« fragte er.
»Daß mich keiner anfassen darf. Darum geht es dir doch.«
»Hör auf, an deinem Haar zu kauen.«
Trudi ließ die Strähne los und griff nach dem Recorder, klappte den Deckel auf und nahm die Kassette heraus. »Laß nicht alles aus sein«, sagte sie, »ich kann doch singen. Es ist mein Leben.« Ihre Stimme zitterte ein bißchen. Sie steckte die Kassette in den Bund ihres engen Rockes. »Bitte«, sagte sie.
»Du bist zweiunddreißig.«
Trudi sah überrascht aus. »Ist das alt?«
»Herrgott«, sagte Georg, »es ist nicht zu alt, um sich noch ein paar Jahrzehnte lang sinnvoll zu beschäftigen. Es ist nur zu spät, jetzt anzufangen, neben irgendwelchen Kerlen auf Veranstaltungen aufzutreten.«
»Und was ist mit Kinderkriegen?«
Georg setzte sich wieder an seinen Tisch und schaute auf die Schreibmaschinen, die vor ihm standen. »Vergiß die Bänder. Du brauchst nichts abzuschreiben. Vielleicht tue ich es.«
»Brauchen wir Geld?« Trudi fragte es in einem ganz anderen, viel älteren Ton, als sie ihn eben gehabt hatte. Sie zog die Kassette aus ihrem Rockbund und legte sie neben die neue Maschine.
»Nein«, sagte Georg und verpaßte beider Gelegenheit, »ich habe nur gedacht, daß es dir Freude machen könnte.«
»Kein Wort zu Trudi«, sagte Georg, »tu mir den Gefallen. Das Thema ist ausgestanden.«
»Die eine trödelt durch den Tag und langweilt sich zu Tode, und der andere weiß nicht, wie er die Kohle zusammenkratzen soll.« Jos lehnte auf der Schreibmaschine und drückte die Tasten, die nichts in Gang setzten, weil die Schnur noch stromlos und gebündelt daneben lag. »Ich kann ja versuchen, sie zu verkaufen«, sagte er, »irgend jemand fällt mir schon ein, der eine Schreibmaschine nötig hat.«
»Nach dem Singenden Kind werden wir wieder was Lukrativeres anfangen«, sagte Georg.
»Laß es uns gleich tun.« Jos setzte sich aufrecht. Der Gedanke belebte ihn. »Vergiß das Singende Kind. Da liegt nichts Gutes drin.«
»Der Satz könnte von meiner Mutter sein.«
»Ich will nicht behaupten, daß sie eine kluge Frau ist«, sagte Jos, »aber in dem Fall hätte sie recht.«
»Wie beenden die Arbeit, wenn das Buch fertig ist. Deine letzten Zeichnungen waren genau richtig.«
»Weil ich deprimiert bin.«
»Mit wem schläfst du gerade?«
»Mit niemandem«, sagte Jos, »du willst meine Depression doch nicht etwa darauf reduzieren.«
»Deine Zurückhaltung in der letzten Zeit paßt gar nicht zu deiner sonstigen Promiskuität. Was steckt dahinter?«
»Ich werde in diesem Monat einunddreißig. Vermutlich liegt es daran.«
»Oder du hast dich ernsthaft in eine verguckt, die du nicht kriegen kannst.«
»Soll ich nicht doch noch mal mit Trudi reden?«
»Versprich mir, daß du
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