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Das singende Kind

Das singende Kind

Titel: Das singende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Korn
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ich«, sagte Jos.
    »Du brauchst Geld? Das von dem Bild ist doch sicher weg.«
    »Ich mache mir eher Sorgen um eure Finanzen. Trudi hat mich eben gefragt, wie es ist, wenn das Telefon abgestellt wird.«
    Georg sah ihn aufmerksam an. »Sie war doch schon gegangen, als du kamst«, sagte er.
    »Ich habe sie im U-Bahnhof getroffen. Vor dem Fahrkartenautomaten. Ich habe mich von ihr über die günstigen Tarife aufklären lassen, damit ich nachher nicht wieder aufs Schwarzfahren angewiesen bin.«
    »Was ist mit deinem Auto?«
    »Kaputt«, sagte Jos.
    »Wenn du aus dem Singenden Kind aussteigen willst, ich kann dir nicht länger zumuten, kein Geld zu verdienen.«
    »Euer Telefon ist nicht abgestellt?«
    Georg stand auf und ging zu dem Regal, in dem das Telefon zwischen Büchern stand. Er hob den Hörer und hielt ihn Jos hin. Der lange Ton schaffte die drei Meter zu Jos mühelos. »Warum fragt sie nur danach?«
    Jos zuckte die Achseln.
    »Hat sie dir gesagt, wo sie hinfährt?«
    »Ich habe nicht gefragt.«
    »Du hast die nötige Langmut für Trudi«, sagte Georg.
    Jos stand auf, griff nach der Zeichenmappe, die neben seinen Füßen lag, und ging zum Schreibtisch. Er ließ die Mappe aus einem halben Meter Höhe herunterfallen. Sie klatschte neben den Manuskriptordner und brachte ein Bild in Bewegung. Jos schaute darauf. Ein kleiner Junge mit dünnem Haar, das von einer Spange aus der Stirn gehalten wurde. Der Junge lächelte. Doch er sah endlos traurig aus. Es mußte eines der bekannten Fotos sein. Mißbrauchte Kinder. Was immer. Jos erinnerte sich schwach, das Gesicht schon mal gesehen zu haben. »Was ist das wieder für eine Geschichte?« fragte er und deutete auf das Foto.
    »Das habe ich gefunden. In alten Unterlagen.«
    »Mord?« fragte Jos. »Krieg? Vergewaltigung?«
    »Da war ich sieben«, sagte Georg, »gerade eingeschult.«
    »Das bist du?«
    »Was hast du gedacht?«
    Jos setzte sich auf den Tisch, nahm das Foto und betrachtete es. »Ich mache weiter«, sagte er, »ich stehe das Singende Kind mit dir durch. Möge es uns nur nicht umbringen.«
    Trudi lief direkt in den Besen hinein. Die Borsten schrammten das nachgiebige Leder ihrer leichten Schuhe und kratzten über die nackte Haut der Füße. Die Frau zog den Besen zurück und sah Trudi an. Trudi sah auf die Hausnummer. Es war das Haus.
    Doch Trudi ging weiter. Den Blick der Frau im Rücken, der sie bis zur Ecke der Straße schob. Trudi blieb stehen und wartete ab. Sie wollte unbeobachtet bei Cilly Weil ankommen.
    Die Frau gab nicht nach. Sie fegte an den Steinplatten vor dem Haus herum, bis die dünnen Streifen Erde zwischen den Platten locker wurden. Ihren Blick ließ sie bei Trudi. Er begleitete sie über die Straße und in eine Telefonzelle hinein. Trudi nahm den Hörer und drehte sich noch mal nach dem Haus um. Die Frau blickte zu Boden und fing an, den Besen am Straßenrand auszuklopfen.
    Trudi trug die Telefonnummer im Kopf. Dutzendmal vom Zettel abgelesen und in die Tastatur eingegeben, als sie wieder Cilly Weil zu erreichen versucht hatte, bevor sie zur Station der Untergrundbahn hinübergegangen war. Irgendein anderer mußte die Nummer der Weil genauso hartnäckig angewählt und besetzt gehalten haben. Denn als Trudi durchkam, lief der Ton ins Leere.
    Es hatte Trudi gestört, Jos zu treffen. Sie wollte die Welten trennen. Georgs und die, in die Trudi einzutreten hoffte. Ihr war die Frage nach dem abgestellten Telefon herausgerutscht. Jos' Antwort war ein Reflex. Wie Trudis Frage. Der Anrufer denkt, du seist nicht zu Hause, hatte Jos gesagt, doch die Leitung ist tot, und du hörst nicht mal das Läuten. Sekunden später dachten sie beide über ihre sorglosen Sätze nach, und Trudi sah es Jos an, daß ihm das Gesagte erst da bewußt wurde.
    Trudi hörte den Rufzeichen zu und legte auf, als die Frau verschwunden war. Trudi verließ die Telefonzelle, und hinter ihr schloß sich zäh und langsam die Tür. Trudis Bewegungen waren ähnlich zeitlupenhaft. Es schien der Nachmittag vergangen zu sein, als sie am Haus ankam und über die gefegten Steine ging, die Tonnen vor der Kellertreppe streifte und endlich in der Nische der Eingangstür stand. Aus den Klappfenstern kamen schon Essengerüche.
    Es gab keinen Klingelknopf für Cilly Weil. Trudi brauchte eine Weile, bis das in ihr Denken eingesickert war und sie einen zweiten Anlauf nahm, die zwölf Namen auf den Schildern zu entziffern, und schließlich jeden einzelnen buchstabierte, als habe sie eben erst das Lesen

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