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Das singende Kind

Das singende Kind

Titel: Das singende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Korn
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zu sehen, und schon gar nicht an der Seite von Jos.
    Er war nahe daran, Trudi schwören zu lassen, ihm treu zu sein und in Jos nur seinen alten Freund zu mögen. Doch es war ihm auch in dem Augenblick klar, daß keiner von beiden ihm bisher Grund gegeben hatte, etwas anderes anzunehmen.
    Georg ging rückwärts zur Tür und hielt dabei das Hemd vor seinen nackten Körper und ahnte, daß er lächerlich aussah. Er wünschte, er wäre für länger in der Lage, aus seiner Haut zu kommen und dem Mann ähnlich zu sein, den er eben noch vor Augen gehabt hatte. Er guckte zu Trudi hin, die schon in Rock und Bluse stand. Vor dem Fenster angezogen. Sie genierte sich nicht. Er fürchtete, Spott in ihrem Blick zu finden. Doch es war kein Spott darin, und als Trudi ihm zulächelte, wußte er, daß der Nachmittag nicht verloren war.
    Georg schleppte einen Traum durch das Leben, den er das erste Mal als Achtjähriger geträumt hatte und der für ihn seit dreißig Jahren ein Alp war, auch wenn es ein Kindertraum blieb und er ein Kind darin. Er sah sich auf einen großen Kreis von Kindern zugehen. Er kannte sie alle. Sie hatten sich an den Händen gefaßt und hielten einander fest, und er suchte Hände, die sich öffneten für ihn und seine ergriffen und ihn einließen in den Kreis. Keine Hand gab nach. Keiner nahm seine Hände. Keiner ließ ihn ein.
    Trudi sang, und Georg begann sich ausgeschlossen zu fühlen. Es war, als ob Trudi mit jedem Lied einen Kreis um sich zog, in den er nicht treten durfte. Er kannte keines der Lieder. Doch je länger er Fetzen davon über den Flur kommen hörte, desto fester hängte sich die Furcht an ihn, daß sie ein Unheil bedeuteten, und er sah Trudi in einer Bar singen und dann in ein Bordell verschleppt, und er sah sich gegen geschlossene Türen schlagen.
    Trudi sang a cappella. Sie hob kaum mal den Deckel des Klaviers, zu dessen Kauf sie ihn am Anfang ihrer Zeit gedrängt hatte. Ein alter Kasten, der zu verbraucht war, um auch nur einen Takt lang Harmonie vorzutäuschen oder die Tasten freizugeben, die sich leicht verklemmten. Georg hatte ihn ins Schlafzimmer abgeschoben, wo sich das sammelte, wovon er wenig sehen wollte, und da stand das Klavier zwischen Trudis Schrank und der Heizung, die ihm die letzten der guten Töne austrocknete.
    Georg horchte auf. Trudi hatte ein paar Töne angeschlagen. Der Anfang eines Liedes, das Käthe Dux ihr verordnet hatte. Er sehnte sich nach dem Repertoire der Dux. Den Feinsliebchen. Den Schäfern. Den Mägdelein. Vor Monaten hätte er nicht für möglich gehalten, daß der damalige Zustand seines Lebens der Zufriedenheit nahe gewesen war. Er hatte die Dux abserviert, und seitdem bewegten sie sich auf einen Abgrund zu. Der Fluch der Dux. Georg stand auf, um in die Küche zu gehen. Die Gläser aus dem Schrank holen. Das Eis aus dem Kühlfach. Pastis. Wasser. Doch er gab das Vorhaben auf. Es ließ sich nicht wiederholen. Für ihn noch weniger als für Trudi.
    Der Klavierdeckel wurde zugeklappt. Trudi kam aus dem Schlafzimmer und hielt an der Küchentür. »Ich bin mal weg«, sagte sie. Ich bin mal weg. Ein verkrüppelter Satz, um eine stundenlange Abwesenheit zu verkünden. Georg sah auf seine Uhr. Gleich sechs. Er hatte nicht damit gerechnet, daß sie noch aus dem Haus ginge. »Gehst du zur Dux?« Eine absurde Frage. Er wußte es.
    Trudi griff schon nach der Türklinke. Sie sah ihn erschrocken an. »Wie kommst du darauf?«
    »Hast du nicht was von Haydn gesungen?« Das Leben ist ein Traum. Ein Lied, das ihm gefallen hatte. Doch wie kam er darauf, nach dem Tingeltangel, das ihm heute in die Ohren gekommen war. »Geh nur«, sagte Georg, »wann kommst du wieder?«
    »Ich bleibe nicht lange.« Trudi deutete auf das Glas, das er noch in der Hand hatte, von der Küche hergetragen. »Wir können dann einen Drink nehmen und zusammen essen.«
    Nahmen sie jetzt Drinks? Georg nickte. »Bis gleich«, sagte er. Er erinnerte sich an Zeiten, da hatte er danach gelechzt, sie aus dem Sessel hochkommen zu sehen, den Roman beiseite legen, sich in Bewegung setzen. Hinaus aus dem Haus. Auch wenn es im Widerspruch dazu stand, daß er sie zu behüten hatte.
    Die Tür war gerade zugezogen, da klingelte es. Georg öffnete. »Dein Schlüssel«, sagte er, »ich glaube, er liegt in der Küche.«
    »Ich will ihn gar nicht mitnehmen«, sagte Trudi, »du bist ja da. Ich wollte nur sagen, ich habe nichts von Haydn gesungen.«
    »Ist schon gut«, sagte Georg. Es erleichterte ihn, daß sie den

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