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Das singende Kind

Das singende Kind

Titel: Das singende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Korn
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sagte Jos, »ich habe alles längst kapiert.«
    »Du findest die Idee noch immer nicht gut?«
    »Ich finde sie ja gut. Sie ist nur einfach unerträglich.«
    »Du bist eben auch ein Verdränger.«
    »Ein anderes Problem ist, daß ihr pleite seid.«
    »Ja«, sagte Georg.
    »Und ihr wollt Kinder, und es kommen keine.«
    »Ich kann keine kriegen. Ich bin zeugungsunfähig.«
    »Das ist es also«, sagte Jos. Er ging zum Fenster und bemühte sich, das Haus gegenüber im Blick zu halten. Er hatte das Gefühl, er dürfe Georg jetzt nicht angucken oder ihm zu nahe kommen. »Hast du Mumps gehabt?«
    »Nein«, sagte Georg. »Meine Mutter hat nur zu lange verhindert, daß sie mir die Eier aus der Bauchhöhle holten. Hodenretention. Ein Geburtsfehler. Nicht weiter tragisch, wenn sie dir rechtzeitig Hormone zu schlucken geben oder du schlimmstenfalls operiert wirst. Nur wenn du älter als drei bist, und deine Hoden sind immer noch im Bauch, dann ist die Gefahr groß, daß du in diesem Leben keine Kinder zeugst. Ich wurde dreizehn, als die gute Grete endlich einer Operation zustimmte.«
    »Was hatte sie dagegen?«
    »Wahrscheinlich war es ihr einfach nicht wichtig, ob die Eier draußen waren. Wie ich ihre sexuelle Aufgeschlossenheit einschätze, ist es ein Wunder, daß ich auf der Welt bin.«
    »Du bist seit sechs Jahren mit Trudi verheiratet und hast nie ein Wort zu ihr gesagt?«
    »Gut«, sagte Georg, »ich bin ein Schwein. Dem schon bei der ersten Begegnung klar war, wie wild Trudi auf Kinder ist. Ich habe es nicht gewagt. Ich hätte sie verloren.«
    »Warum sagst du ihr immer noch nichts? Deswegen verläßt Trudi dich doch jetzt nicht mehr. Du kannst sie nicht einfach auflaufen lassen. Sie wartet jeden Monat darauf, daß ihre Brüste schwer werden und sie Heißhunger bekommt und Babywäsche kaufen kann.«
    »Ich habe es verdrängen wollen. Was glaubst du denn, warum es mir so beschissen geht?«
    »Warum hast du mir nie was gesagt?«
    »Vielleicht dachte ich, es wird weniger wahr, wenn ich es für mich behalte.«
    »Du mußt es ihr sagen«, sagte Jos, »sofort.«
    »Laß mich einen besseren Moment abwarten.«
    »Versprich mir, es bald zu tun.«
    »Versprich du mir, es mir zu überlassen, Trudi alles zu erklären. Halt du bitte den Mund.«
    »Ich werde es ihr nur dann sagen, wenn du es nicht tust.«
    »Überlaß mir den Zeitpunkt.« Georg ging zu Jos und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Schwöre es mir.«
    »Aus dem Alter sind wir raus.«
    »Bitte«, sagte Georg.
    Jos drehte den Kopf zu Georg und sah in sein aufgelöstes Gesicht. »Gut«, sagte er, »du kannst dich drauf verlassen.«
    Jos hatte nur die Schultasche in den Flur stellen wollen und dann hinunterlaufen zu den anderen, die schon im Hof spielten. Die Tür war zweimal zugeschlossen gewesen. Wie immer. Doch irgendwas störte ihn, als er in die Wohnung kam. Er konnte in die Küche sehen, die als erstes Zimmer vom Flur abging, und er sah die Schüssel mit dem Grießmehlpudding auf dem Tisch und ein großes Glas mit Blaubeeren. Der Vater hatte den Pudding am Abend zuvor gekocht.
    Jos war mit klopfendem Herzen durch die Wohnung gegangen. Erst in sein Zimmer. Dann in das Wohnzimmer. Obwohl nur die eine Tür verschlossen war und Jos schon ahnte, daß er durch die gehen mußte. Er hatte davorgestanden und schließlich die Klinke hinuntergedrückt und die Tür nicht öffnen können.
    Später erinnerte sich Jos nicht mehr daran, daß er laut nach seinem Vater geschrien hatte. Er wußte nur, daß Georg durch die angelehnte Wohnungstür gekommen war. Jos holte sich heute noch oft den schmächtigen Georg vor Augen, wie er sich vergeblich gegen die Tür warf, bis Jos endlich in der Lage war, es ihm gleichzutun, und das Holz ihnen nachgab.
    Der Vater hatte auf dem Bett gelegen. Das Gesicht im Kissen. Jos war von Sinnen gewesen und glaubte ihn tot und alles verloren. Georg hatte den Vater gerüttelt. Heftig gerüttelt. Ihm den Puls gefühlt und dann nach dem Krankenwagen telefoniert und die Tablettenröhrchen eingesammelt.
    Der Vater wurde durch das enge Treppenhaus getragen, und Georg nahm den elfjährigen Jos an die Hand und ging hinterher. Er stieg mit ihm in den Wagen und drehte sich nicht einmal nach Grete Fortgang um, die oben am Fenster stand und nach ihm zeterte.
    Es war Georg gewesen, den der Arzt mit einem Handzeichen zu sich bat, weil er ihn für den älteren von zwei Brüdern hielt. Jos hatte wie angeklebt auf der Bank gesessen und die nackten Beine nicht von den

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