Das Sonnentau-Kind
kommen. Ich war wirklich lange nicht mehr hier. Irgendjemand hat die Tür neu gestrichen, und die Stufen, die zum Eingang führen, sind ausgebessert worden.
Roland sieht meinen Blick und freut sich. «Wir haben wieder Geld bekommen. Aus Deutschland. Du wirst sehen, irgendwann haben wir das schönste Haus in ganz Arad. Nicht umsonst heißt es Prim ặvarặ – Frühling –, hier ist die Hoffnung zu Hause.»
Wieder ein typischer Satz, für den ich ihn würgen könnte. Ich gehe an ihm vorbei in den Flur. Da, auf der Ablage an der Wand neben der Garderobe, steht nur ein einziger Brief, und ich erkenne schon von weitem die unruhige Handschrift, mit der mein Name auf den Umschlag geschrieben worden ist. Ich nehme das Papierstück an mich, drücke es gegen meine Brust.
Ein Brief von dir, Aurel. Wann habe ich das letzte Mal so etwas Wertvolles in den Händen gehabt?
Im Büro klingelt das Telefon, immer und immer wieder, niemand geht ran. Roland ruft: «Wer nimmt denn mal den Hörer ab?», aber es antwortet keiner.
Ich reiße den Umschlag auf.
Liebe Teresa! steht dort.
Ich habe Ladislaus gefunden. Meine Reise war also nicht umsonst. Es geht ihm nicht gut, aber sobald er gesund genug ist, werde ich ihn wieder mitbringen. Allerdings kann es ein paar Tage länger dauern als abgemacht. Warte also bitte nicht auf mich. Wie geht es den anderen? Ich denke an euch! Aurel « Kannst du es lesen?», fragt Roland, der sich umständlich die Jacke auszieht.
«Ja.»
«Was schreibt Aurel?»
«Er kommt vielleicht etwas später zurück.»
«Na, dann ist es ja gut, dass ich dich vom Bahnhof geholt habe. Dort ist nicht gerade der beste Platz, an dem eine hübsche junge Frau wie du den Tag verbringen sollte.»
Das hasse ich auch. Ich bin nicht hübsch, so viel steht fest, und richtig jung fühle ich mich seit Jahren nicht mehr, auch wenn ich erst fünfzehn bin.
Er scheint zu merken, dass er mit seiner Art bei mir keinen Treffer landen kann, also wechselt er das Thema: «Und was steht sonst noch im Brief?»
«Nichts Besonderes», lüge ich, stecke das Papier in den Hosenbund und ziehe den Pullover darüber.
Das Telefon klingelt noch immer hartnäckig. Es macht mich nervös. Dieses Klingeln. Ich fühle mich angesprochen. Als würde das Telefon mich meinen, mich zum Gespräch auffordern. Dabei habe ich noch nie in meinem Leben einen Anruf bekommen.
«Ich gehe mal ran», sagt Roland, doch in diesem Moment schweigt der Apparat im Nebenraum, und es ist still im Flur des Prim ặvarặ.
Heiliger-Hof, Moordorf idyllisch
«Aurel, Aurel!», riefen die Kinder und rannten fröhlich auf das Haus zu.
Annegret hoffte nur, ihr Mann würde nicht gekränkt sein, dass Thorben und Henrike zuerst den Au-pair-Jungen begrüßen wollten und ihren Vater dort auf dem Hof mehr oder weniger unbeachtet stehen ließen. Sebastian hatte seine Hände in den Taschen der Cordhose vergraben und schaute den beiden mit ausdruckslosem Gesicht hinterher.
Sie ging auf ihn zu, lächelte ihn an, streckte ihm beide Arme entgegen. Doch er blieb, wo und wie er war. Annegret erschrak. Das Gefühl, ertappt worden zu sein, lähmte sie kurz. Es hätte sie nicht gewundert, wenn er mit Röntgenblick ihre Handtasche durchleuchtet hätte und nun den Inhalt des versteckten Briefes kannte. Zwar war Sebastian alles andere als ein eifersüchtiger oder misstrauischer Mensch – und im Grunde hatte Annegret ihm auch noch nie Anlass dazu geboten –, doch irgendetwas schien nicht zu stimmen, und Annegret konnte nicht anders, als diese Veränderung auf sich selbst zu beziehen.
«Was ist?», fragte sie mit aufgesetztem Lächeln. «Freust du dich nicht, dass deine Familie wieder zu Hause ist?»
Nun machte er einen Schritt nach vorn, doch er blieb ernst dabei.
«Können wir reden?»
«Ja», sagte sie etwas zu schnell, und die Antwort klang gleichzeitig nach einer Frage. «Ist etwas passiert? Ärger wegen der Ausstellung im Moormuseum? Du weißt, das ist kurz vor der Eröffnung immer so.»
«Gehen wir in dein Atelier. Die Kinder sollen …»
«Mach dir keine Gedanken, die Kinder sind froh, dass sie ihren heiß geliebten Aurel wiederhaben. Und bis zu seiner Abreise morgen wollen sie jede Sekunde mit ihm auskosten.»
«Ebendeshalb muss ich mit dir reden.» Sebastian legte ihr sanft die Hand auf den Rücken und führte sie zum Schuppen. Die Tür stand auf, wahrscheinlich hatte Aurel mal wieder vergessen, sie zu schließen. Er musste auf dem Weg in sein Zimmer stets durch ihre
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