Das Sonnentau-Kind
Schläge und Hunger. Es war während ihrer Schwangerschaft gewesen, als sie ohnehin anfällig für das Elend der Welt gewesen war. Sie konnte sich erinnern, irgendwann den Kanal gewechselt zu haben, weil sie die Szenen nicht mehr ertragen konnte.
Sebastian Helliger strich gedankenverloren über den Koffer. «Es lag nahe, dass wir immer Au-pairs aus Rumänien genommen haben. Erstens konnten wir so unseren Kindern ein kleines Stück ihrer Ursprungskultur vermitteln. Die Jungen und Mädchen waren ausdrücklich angewiesen, mit Thorben und Henrike in ihrer Muttersprache zu reden, auch die rumänischen Sprachkenntnisse von meiner Frau und mir haben davon profitiert. Zudem sollten die Au-pairs etwas von der Kultur – der rumänischen Küche, Bräuche und Lieder – verstehen. Rumänien wäre ein wunderschönes Land, wenn nur die Misswirtschaft während der Ceau ş escu-Ära nicht ein solches Elend in der Bevölkerung herbeigeführt hätte. Und zweitens konnten wir auf diese Weise auch einem jungen Menschen für ein Jahr ein besseres Zuhause und eine Chance für die Zukunft geben.»
Wow, dachte Wencke, dieser Moorkönig hat ein gutes Herz. Während ich bei meiner Suche nach einem Kindermädchen nur den Gedanken verfolgt habe, eine adäquate und bezahlbare Betreuung für Klein Emil zu finden, rettet Sebastian Helliger mal eben ein kleines Stück der ganzen Welt. Und wirkt dabei nicht gönnerhaft oder moralistisch.
«Und wenn sie dann in ihre alte Welt zurückkehren müssen, ist das nicht … doppelt hart?», fragte Wencke.
«In Rumänien gibt es ein altes Sprichwort: Abschied ist ein kleiner Tod, nur wer Neues begrüßt, wird ihn überleben, so die sinngemäße Übersetzung.»
«Und? Hätte Aurel überlebt?»
«Ich weiß es nicht», antwortete Helliger. «Er hat nicht darüber gesprochen, was ihn zu Hause erwartet, was er dort zu tun gedachte. Sonst war er kein verschlossener Junge, ich habe selten einen solch offenen Menschen wie ihn kennengelernt. Aber wenn es um Rumänien ging …»
«Könnte es sein, dass er sich deswegen lieber das Leben genommen hat? Weil er keine Perspektive hatte? Weil er – um bei diesem Sprichwort zu bleiben – sich nicht imstande sah, Neues zu begrüßen?»
Helliger nickte nur, was Wencke allerdings nicht als Zustimmung deutete. Eher als hilflosen Versuch, seinem Unverständnis Ausdruck zu verleihen.
Es klopfte kurz an der Tür, und Meint Britzke trat ein, ohne ein Herein abgewartet zu haben. «Ihr Hausmeister sagte mir, dass ich Sie hier finde. Wencke, die Spurensicherung ist jetzt da, sie nehmen sich zuerst den Schuppen vor, anschließend wollen sie dieses Zimmer hier und das Atelier durchsuchen.»
«Das ist gut.» Wencke zog vorsichtig das beschriebene Papier aus dem Kofferanhänger und reichte es ihrem Kollegen. «Und in der Zwischenzeit wäre ich dir dankbar, wenn du herausfinden könntest, wer unter dieser Adresse hier zu finden ist und – falls es sich bei den Zahlen um eine Telefonnummer handelt – wer am anderen Ende den Hörer abnimmt. Ach, und für den Fall, dass jemand drangeht, brauchten wir wahrscheinlich auch einen entsprechenden Dolmetscher für Rumänisch.»
Meint Britzke grinste sie an. Sie wusste, was sein Gesicht zu bedeuten hatte: Sie war wieder da. Sie hatte ihm eben einen Haufen langwieriger Aufgaben zugeschoben, zu deren Erledigung sie selbst keine Lust hatte. Und das war genau das, was sie vor ihrer Auszeit auch immer getan hatte. Meint Britzke freute dies augenscheinlich. Wencke Tydmers war wieder in ihrem Element. Wieder da.
Hauptbahnhof Arad
hektisch und schmutzig
Ich schaue wieder zur Uhr. 11.23 sagen die Ziffern. Bald ist die Hälfte des Tages herum, aber du bist noch aus keinem der Züge gestiegen. Bist wohl noch unterwegs. Ich rechne ohnehin erst gegen Abend mit dir.
Wie du jetzt wohl aussehen magst? Ich krame das alte Foto aus meiner Jackentasche. Du hast es mir damals zum Abschied geschenkt, erinnerst du dich? Du hast gesagt, es sei nicht gerade die neueste Aufnahme, aber es gebe nicht viele Bilder von dir, und dieses müsse ausreichen, damit ich dich nicht vergesse. Auf dem Foto bist du erst fünfzehn. So alt, wie ich jetzt bin. Das Bild wurde in einem der Heime aufgenommen. Ich glaube, es war in Cluj-Napoca. Damals warst du noch kleiner, deine Haare waren länger, dein Gesicht war magerer. Aurel, den Bleistift, haben sie dich genannt, ich habe mich als kleines Mädchen darüber kaputtgelacht. Aber als du vor einem Jahr gefahren bist, hast du
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