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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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Sicher musste er in seinem Job ziemlich schlimme Dinge ertragen. Viele tote Menschen sehen.
    «Entschuldigen Sie», sagte Annegret laut.
    Er nahm die Stöpsel aus den Ohren. «Ja?»
    «Haben Sie den … toten Jungen gesehen?»
    «Ich darf darüber nichts sagen, tut mir leid.»
    «Sah es schlimm aus?»
    «Ich bitte Sie …»
    «Hat er gelitten?»
    «Wie schon gesagt …, außerdem muss ich Sie bitten, nach draußen zu gehen, weil ich hier noch ein wenig arbeiten muss.»
    Der hat gut reden, dachte Annegret. Sie fühlte sich nicht imstande, nur einen Schritt zu machen. Sie beobachtete den Mann. Er pinselte auf den Stufen herum. Dort lagen dunkelbraune Erdklumpen, die wohl in den Rillen einer Schuhsohle hierher gelangt waren. Wenn man im Moor lebt, kann man den Boden jeden Tag von diesem Dreck befreien. Wie gut, dass diesen Job heute die Polizei übernimmt, dachte Annegret. Wieder so ein komischer Gedanke. Konnte es sein, dass sie unter Schock stand? War man dann nicht etwas wirr im Kopf?
    Am Fuß der Treppe stand eine Spule mit Sisalband, welches sie zum Anheben und Fixieren der einzelnen Objektteile benutzte. Der Mann schaute sich das hellbraune, raue Tau genau an. «Steht das immer hier herum?»
    «Ja», antwortete sie einsilbig.
    «Und gibt es davon noch mehr auf diesem Grundstück?»
    «Nein, nicht dass ich wüsste.»
    «Kerstin, kommst du mal runter?», rief der Spurensicherer die Treppe hinauf. Dann wandte er sich wieder an Annegret. «Ich muss Sie nun wirklich bitten.» Er hob seine Handflächen nach oben und machte mit dieser Geste unmissverständlich klar, dass sie sich erheben sollte, weil sie hier unerwünscht war. In ihrem eigenen Atelier. Eine überflüssige Person. Annegret gelang es, aufzustehen.
    «Was hast du denn?», kam eine Frauenstimme aus Aurels Zimmer.
    «Hab was gefunden. Sieht aus, als …» Er stoppte, als er merkte, dass Annegret noch immer anwesend war.
    «Ist dies das Seil, mit dem Aurel sich erhängt hat?», fragte Annegret.
    «Also, wissen Sie …», sagte er nur, dann wies er in Richtung Tür. «Ich bin hier nicht zum Vergnügen. Und je eher Sie uns unsere Arbeit tun lassen, desto schneller sind wir hier verschwunden und können Ihnen Antworten auf Fragen dieser Art geben.»
    «Ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg», sagte Annegret bissig und ging auf den Hof.
    Warum schien heute die Sonne? Das fühlte sich falsch an. Der Himmel gaukelte ihr heute etwas von Fröhlichkeit vor, dabei war Aurel gestorben. Die ganze Zeit das wunderbare Wetter, auf Spiekeroog Strahlesonne, auf dem Schiff Frühlingsluft, da war sie ohne Vorwarnung in dieses dunkle Loch gefallen, welches zu Hause auf sie gelauert hatte.
    Es zog sie in das Waldstück hinter dem Heiliger-Hof. Keinen Kilometer weiter befand sich das Lager 1. Ein unheimliches Gebäude, eine von den vielen Holzbaracken, die durch die Modernisierung des Betriebes unnütz auf dem Gelände herumstanden. Es gab im Umkreis von zehn Kilometern sicher noch drei oder vier weitere dieser verborgenen Lagerhäuser, genau wusste Annegret das nicht. Früher hatten sie einen eigenen Verwalter gehabt, seit einigen Jahren war nun der Hausmeister Holländer dafür zuständig. Die Kinder spielten in diesem Schuppen beim Haus mit Freunden Verstecken oder Gespensterjagd. Wahrscheinlich würden sie es nun nie wieder tun. Sobald der Polizeispuk vorbei war, würde Annegret ihren Mann überreden, den Schuppen abzureißen.
    Annegret mochte die schmale, aber dichte Schonung hinter dem Hof. Hier in Ostfriesland gab es nicht viele Bäume, da durfte man solche Ansammlungen von Birken und anderen Bäumen getrost einen Wald nennen. Normalerweise ging sie vormittags, wenn die Kinder in der Schule waren, ein paar Kilometer mit dem Hund spazieren. Dann kam sie immer hier vorbei. Und nun hatte dieser alltägliche Ort eine ganz neue Bedeutung bekommen. Der Lagereingang war mit einem rot-weiß gestreiften Plastikband abgesperrt, ein Schild untersagte das Betreten des markierten Bereiches. Sie spähte in den Schuppen, doch es war zu dunkel, um Details auszumachen. Also ging sie weiter, es war egal, in welche Richtung, Hauptsache, sie konnte unterwegs sein, vor den Gedanken davoneilen oder sie ein Stück weit mitnehmen, je nachdem, was sie ertragen konnte.
    Aurels blaues Fahrrad lag weiter hinten, zwanzig Meter vom Weg ab neben einem Baum, es war weder mit Plastikband abgesperrt noch sonst irgendwie markiert, also war die Polizei vermutlich noch nicht bis hier gekommen. Annegret ging

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