Das Sonnentau-Kind
Werkstatt, und viel zu oft war er dabei mit dem Kopf in den Wolken.
Als sie ins Innere getreten waren, blieb sie verwundert stehen. «Was macht dieser Mann in meinem Atelier? Was ist los?»
Ein Fremder im schneeweißen Overall inspizierte die Holztreppe, die nach oben in den Wohnbereich führte, wo das Personal untergebracht war. Unbeirrt setzte er seine seltsame Arbeit fort, obwohl er Annegrets Ankunft und ihren unerfreuten Satz mit Sicherheit gehört hatte.
«Sebastian, sag ihm, er soll verschwinden!»
«Er ist von der Polizei», sagte ihr Mann. Dann fasste er ihre beiden Hände und zog sie zum großen Korbsessel hinüber, der neben dem bodentiefen Fenster in der Sonne stand. Sie waren beide fast gleich groß und standen sich auch in puncto Kraft in nichts nach, deswegen kam es eher selten vor, dass Sebastian sie zu führen versuchte. Mit sanfter Gewalt drückte er sie auf den geflochtenen Sitz.
«Warum setzt du mich hin? Um Himmels willen, Sebastian, nun …»
«Aurel ist tot!»
«Was?» Annegret fiel auf, dass die Fensterscheiben viel zu staubig waren und einige Fingerspuren auf dem Glas feine Schatten auf den Boden warfen. Mandy müsste hier mal wieder zum Einsatz kommen. Gutes Licht war bei der Arbeit unerlässlich. Gleich morgen würde sie …
«Annegret, hast du mich verstanden? Ich habe heute Morgen bei meinem Rundgang mit dem Hund bemerkt, dass die Scheunentür von Lager 1 offen stand. Als ich hineinging, fand ich Aurel. Er hat sich erhängt.»
Langsam wandte sie das Gesicht vom Fenster ab und schaute zu Sebastian. «Bist du dir sicher, dass er tot ist? Ich kann mir das von Aurel gar nicht vorstellen.» Ihr war klar, dass der letzte Satz skurril klang und man derlei Dinge eigentlich nicht sagte. Doch es brachte Abstand zwischen sie und diese Wahrheit, die Sebastian ihr da gerade erzählte. «Sicher hast du dich geirrt.»
«Annegret, dieser Mann hier ist von der Spurensicherung. Und bei Mandy in der Küche sitzt gerade eine Kriminalkommissarin. Sie wird dich sicher auch noch befragen wollen, aber mach dir keine Sorgen, es ist eine nette Frau. Sie hat selbst ein Au-pair-Mädchen für ihren einjährigen Sohn.»
«Was redest du da?», fragte Annegret ihn. Sie spürte, dass seine ruhige Art sie zur Weißglut brachte. Dies war eine der wenigen Schwierigkeiten, die sie in ihrer inzwischen achtjährigen Ehe durchzustehen hatten, dass er in den fürchterlichsten Augenblicken immer so gelassen blieb, während sie kurz davor stand, zu explodieren. «Hast du nicht eben gesagt, Aurel ist tot? Was geht mich da die Kinderbetreuung einer Polizistin an? Einen Scheißdreck interessiert mich das!»
Nun drehte sich der Mann auf der Treppe kurz um. Er trug Musikstöpsel im Ohr und grinste. Was war hier los? Hatte sie so laut geschrien?
«Raus aus meinem Atelier!», blaffte sie ihn an. Das Grinsen versiegte. Der Spurensicherer drehte sich wieder um und bepinselte das Treppengeländer.
Sebastian legte seine Hand auf ihren Scheitel. «Ist schon gut, Liebes», flüsterte er. Es war immer so, wenn sie laut wurde, begann er automatisch zu flüstern. Als lägen ihre beiden Lautstärken auf einer Waage und er könne mit dieser Masche das ganze Gebrüll seiner Frau wieder ins Gleichgewicht bringen. Es brachte ja auch nichts, herumzuschreien. Gar nichts. Aurel war … tot!
Die Kinder kamen herein. Thorbens dunkle Augen blickten sich um. «Wir können Aurel nicht finden. Ist er in seinem Zimmer?»
Sebastian rückte endlich von ihr ab. «Nein, Kinder. Aber wollt ihr nicht erst einmal eurem Papa hallo sagen?»
Eher beiläufig kamen die beiden auf ihn zu und umarmten ihn kurz, von Henrike bekam er sogar den Hauch eines Küsschens auf die Wange. Annegret wusste, die Begrüßung von Aurel wäre um einiges stürmischer ausgefallen.
Henrike trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. «Aber jetzt wollen wir zu Aurel. Er ist doch nicht etwa schon weggefahren, ohne sich von uns zu verabschieden?»
«In gewisser Weise schon.» Sebastian seufzte. «Kommt mal mit in die Bibliothek, Kinder. Ich muss mit euch reden.»
Auf einmal sehr schweigsam geworden, folgten die Kinder ihrem Vater, und Annegret blieb allein zurück. Bewegungsunfähig saß sie auf dem Korbsessel und betrachtete die Schattenbilder der schmutzigen Scheiben. Der Mann im weißen Overall kam immer näher. Sie konnte inzwischen erkennen, dass er klassische Musik während der Arbeit hörte. Es machte diesen Eindringling irgendwie menschlicher. Er lenkte sich ab.
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