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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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nicht mehr wie ein hölzerner Strich ausgesehen. Ich erinnere mich noch genau, wie du in den Zug gestiegen bist, der dich nach Bukarest zum Flughafen bringen sollte. Du hast dich noch einmal zu mir umgedreht und gewunken. Die Zeit, die du nicht mehr auf der Straße gelebt hast, hat dir gutgetan. Du warst kräftig, hattest Muskeln aufgebaut, deine Frisur war sehr kurz, und du hattest dir einen Stoppelbart wachsen lassen, der dich erwachsener machte. Und die Brille, die du trugst, ließ dich wie einen Gelehrten aussehen. Nun, du kannst ja auch lesen und schreiben. Und es gibt nicht viele Heimkinder, die das beherrschen, also bist du, Aurel, tatsächlich so etwas wie ein Gelehrter. Für mich und die anderen sowieso. Du bist unser Vorbild. Alle wollen wir so werden wie du.
    Aber ich werde das nie schaffen. Du weißt ja gar nicht, was ich inzwischen mache. Sicher hoffst du, dass ich noch immer die Schule besuche, die die Deutschen im alten Hotel Prim ặvarặ eingerichtet haben. Ich weiß, du hast mich mehr als einmal gebeten, weiter dort hinzugehen, auch während deiner Abwesenheit. Es sei meine einzige Chance, hast du gesagt. Die müsse ich nutzen. Lesen und Schreiben und der ganze Kram, auch wenn es schwerfällt, auch wenn die Holzstühle unbequem sind und diese Lehrerin eine Hexe ist, dies sei der einzige Weg von der Straße weg. Ich hatte mir das auch fest vorgenommen, weiter ins Prim ặvarặ zu gehen, aber zwei Wochen nachdem du nach Deutschland geflogen bist, habe ich etwas erlebt, das alles verändert hat. Du kannst es ja nicht wissen. László ist von seinem Zuhälter zusammengeschlagen worden, so schlimm, dass er ein paar Tage später gestorben ist. Und da habe ich einfach keine Lust auf Schule gehabt. Ich war so wütend. Mit dreizehn ist man noch zu jung zum Sterben, finde ich. Und ausgerechnet László. Er war ein lieber Kerl, er hätte etwas Besseres verdient, wenn schon nicht ein besseres Leben, dann wenigstens einen schöneren Tod. Nicht auf der Pritsche in einem kalten Krankenhaus, wo sie uns Straßenkinder ohnehin immer liegen lassen, bis sich das Problem von selbst löst. Als László starb, haben die Krankenschwestern wahrscheinlich gerade Tee getrunken. Es ist so unfair. Also, warum soll ich Hoffnung haben und daran glauben, dass Lesen und Schreiben mir den ganzen Scheiß ersparen. Kannst du das nicht verstehen?
    Ich hab’s verbockt, okay. Ich hätte auf dich hören sollen. Denn seitdem bin ich nicht mehr regelmäßig zum Prim ặvarặ hingegangen, habe mich mehr um den Klebstoff gekümmert und um meine Gruppe, für die ich schließlich verantwortlich bin, seitdem du fort bist. Dass László tot ist, geht auf meine Kappe. Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen, denn ich bin älter, und er ist bei mir, seit er zehn ist. Ich fühlte mich verantwortlich für ihn. Okay, du sagst immer, ich bin erst einmal für mich selbst verantwortlich, ich muss es erst einmal selbst auf die Reihe kriegen. Und ich weiß, du hast eigentlich recht.
    Ach, Aurel. Wann kommst du endlich?
    Ich vermisse dich so.
    Es ist Mai. Gott sei Dank ist die kalte Zeit vorbei. Ich hatte in diesem Winter keinen Mantel, nur zwei Wollpullover, die ich übereinander getragen habe. Jetzt tut es einer, so warm ist inzwischen der Frühling in Arad. Manchmal finde ich die Stadt sogar schön. Derzeit schlafen wir im Teatrul vechi, erinnerst du dich, du hast mir mal erzählt, dass diese verfallene Ruine vor vielen Jahren ein prächtiges Theater gewesen ist. Viel kann man davon nicht mehr sehen. Aber der Ort besitzt noch immer einen Zauber, die alten Steine sind von Blumen überwuchert, die zurzeit sogar blühen und dem Ganzen Farbe geben, es fast fröhlich aussehen lassen.
    Es ist allemal besser als die Straßenunterführungen oder der schmutzige Bahnhof, in dem ich gerade den Tag herumzukriegen versuche. Ich kann nicht mehr stehen, setze mich auf eine Bank und warte.
    Ein Mann geht auf mich zu. Er kommt mir bekannt vor, doch es dauert ein paar Momente, bis ich in ihm einen der Sozialarbeiter von Prim ặvarặ erkenne, seinen Namen habe ich vergessen. Ich weiß, der Klebstoff, ich sollte es sein lassen, das Schnüffeln macht meinen Kopf löchrig, sodass viel zu viele Dinge herausfallen können und für immer verloren sind. So wie der Name dieses Typen, er ist etwas dicker und über vierzig Jahre alt, er ist ein anständiger Kerl, das weiß ich noch. Er lächelt mich an.
    «Teresa», sagt er. Wie lange war ich schon nicht mehr in der

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