Das Sonnentau-Kind
darauf zu. Das Hinterrad war mit einem Vorhängeschloss an den dünnen Stamm der Birke gekettet. Es sah aus, als sei das Mountainbike ursprünglich gegen den Baum gelehnt gewesen und dann doch noch umgefallen, der gerade Lenker mit den sportlichen Griffen war seltsam verrenkt, das grobe Reifenprofil ragte ihr entgegen.
Aurel war begeisterter Cross-Fahrer gewesen. An manchen Vormittagen war er drei Stunden lang mit dem Drahtesel im Moor unterwegs gewesen, auch bei schlechtem Wetter. Annegret erinnerte sich noch zu gut an den Tag, an dem sie dem gerade frisch in Deutschland eingetroffenen Au-pair-Jungen das gebrauchte Mountainbike überlassen hatten. Dreimal hatte er ungläubig nachgefragt: «Für mich?» Und dann war er kaum noch aus dem Sattel zu kriegen gewesen. Deswegen wunderte es Annegret nicht, dass er sein Zweirad auch hier im abgelegenen Wald ordnungsgemäß angeschlossen hatte, obwohl Fahrraddiebe mitten im ostfriesischen Moorland eher unwahrscheinlich waren. Doch wenn Aurel nun wirklich hierher gefahren war, um sich das Leben zu nehmen, hätte er dann auch so verantwortungsvoll gehandelt? Hätte er wirklich daran gedacht, das Rad abzuschließen, wenn er den Strick, den er sich um den Hals legen wollte, bereits bei sich trug? Das erschien ihr unwahrscheinlich. Überhaupt klang es nicht glaubhaft, dass Aurel Selbstmord begangen hatte. Nicht, nachdem er ihr einen solchen Brief geschrieben hatte, den sie bis an ihr Lebensende in der Handtasche mit sich herumtragen wollte.
Sie stand nun neben dem Rad und dachte daran, nichts zu verändern, nichts zu berühren, dies war sicher eine Sache für die Polizei. Doch als sie die kleine, dünne Plastiktüte sah, die unter dem schmalen Sattel klemmte, beugte sie sich hinunter und zog sie hervor. Der knisternde Kunststoff war zu einem kleinen Ball zerknüllt worden. Es war eine Apothekentüte, so klein, dass man gerade mit einer Hand hineinlangen konnte, ausreichend für eine Großpackung Aspirin und einen Karton Heftpflaster. Das Ding war leicht und leer, Annegret fiel ein, dass sich viele Menschen eine Tüte unter den Sattel klemmten, falls es regnete, konnte man so den Sitz trocken halten. Sie überlegte, wohin sie das Plastikteil werfen sollte, damit niemand dahinterkam, dass sie am Rad herumgefingert hatte. Als sie es in ihrer Handtasche verschwinden lassen wollte, bemerkte sie, dass ein kleiner Zettel darin war, ein Kassenbon, ebenso weiß und ebenso leicht wie die Tüte, deswegen hatte sie das Papier zuerst nicht bemerkt. Es war eine Quittung der Adler-Apotheke, insgesamt fünf nicht mit Namen aufgeführte Posten waren abgerechnet und bar bezahlt worden. Immerhin war es eine Summe von einhundertzwanzig Euro. Und Aurel hatte mit seiner unvergleichlichen Handschrift in Großbuchstaben LADISLAUS auf die Rückseite geschrieben. Annegret konnte mit diesem Wort – oder war es ein Name? – nichts anfangen. Ebenso wollte ihr nicht einleuchten, warum Aurel sich Medikamente gekauft hatte, schließlich war er bei ihnen ordnungsgemäß krankenversichert und brauchte somit keine Arzneimittel zu bezahlen. Zudem konnte sich Annegret nicht erinnern, dass Aurel im letzten Jahr irgendwann einmal krank gewesen war. Nie hatte sie ihn husten oder niesen hören, stets war er strahlend und gesund erschienen.
Annegret schaute auf das Datum, welches unter der Endsumme stand. Der Kassenbon war sechs Wochen alt. Sie versuchte, sich zu erinnern, was vor anderthalb Monaten gewesen war, kurz nach Henrikes neuntem Geburtstag im März. Ihr kamen keine Auffälligkeiten in den Sinn. Aurel war eigentlich wie immer gewesen.
Nur seine Blicke hatten sich in dieser Zeit verändert. Ja, das stimmte. Annegret hatte es auf den Frühlingsanfang geschoben, als sich vor ungefähr sechs Wochen eine leichte Spannung, ein zartes Irgendwas zwischen sie und ihren zwanzig Jahre jüngeren Gast geschlichen hatte. Sie hatte darüber gelächelt.
In der Zwischenzeit war die Sache für Aurel mehr als nur ein romantisches Schwärmen geworden. Und für sie? Für Annegret, die Ehefrau und Mutter und Künstlerin? Was war es für sie gewesen?
Sie steckte die Tüte samt Kassenbon in die Handtasche. Es war besser, wenn niemand jemals erfuhr, dass sie hier an seinem Fahrrad gestanden und vermeintliche Beweismittel entwendet hatte. Es war besser, wenn keine Menschenseele ahnte, wie sehr sie sich dafür interessierte, was mit Aurel geschehen war.
Denn dass sich Aurel das Leben genommen hatte, so wie Sebastian es ihr vorhin
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