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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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sie fragte, welchen Film sie sich am selben Abend gern ansehen würden, entschieden sie sich für Blockbuster wie Avatar .
    Selbst Menschen, die größere Anschaffungen tätigen möchten, wissen oftmals nicht, was sie wollen. Unter Immobilienmaklern gibt es eine geflügeltes Wort: »Hauskäufer lügen«, weil das Haus, das viele Menschen am Anfang ihrer Suche beschreiben, keinerlei Ähnlichkeit mit dem Haus hat, das sie eigentlich bevorzugen und kaufen. Bauunternehmer wissen, dass viele Kaufentscheidungen innerhalb der ersten Sekunden nach dem Betreten eines Hauses getroffen werden. Ein kalifornisches Bauunternehmen, Capital Pacific Homes, entwarf seine luxuriösen Mustervillen so, dass die Kaufinteressenten beim Betreten des Hauses durch die Fenster im Erdgeschoss den Pazifik und dann durch ein offenes Treppenhaus, das ins Untergeschoss führte, ein Schwimmbad sehen konnten. 8 Der sofortige Anblick von Wasser auf beiden Etagen half beim Verkauf dieser Zehn-Millionen-Dollar-Häuser. Späteres Nachdenken war weit weniger wichtig.
    Das Ringen
    Erica mochte solche verborgenen Muster. (Wie die meisten Menschen glaubte auch sie, dass diese Muster zwar auf andere, aber natürlich nicht auf sie selbst zuträfen.) Sie glaubte, sie könne ihre Beratungsfirma dadurch aufbauen, dass sie Daten über solche unbewussten Verhaltensmuster sammelte, insbesondere jene, die mit kulturellen Unterschieden zu tun haben, und diese Informationen anschließend an Unternehmen weiterverkaufte.
    Sie fing an, Informationen über afroamerikanische und hispanoamerikanische Käufer zu sammeln, über Käufer aus den Küstenregionen und Käufer aus dem Landesinnern. Besonders fasziniert war sie von dem Unterschied zwischen Käufern höherer und unterer Einkommensschichten. Die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch hatten die Reichen weniger gearbeitet als die Armen, doch im Verlauf der letzten Generationen hatte sich dieser Trend umgekehrt. 9 Auch die Einstellung zur Freizeit hatte sich grundlegend gewandelt. Während Käufer aus der unteren Mittelschicht ihr Wochenende mit Videospielen und Filmen verbringen wollten, um sich dabei zu entspannen, interessierten die Reichen sich für Bücher und Fitnessprogramme, um sich selbst weiter zu vervollkommnen.
    Erica hatte eine Sammlung von Analysen über derartige Verbrauchertrends angelegt und war startklar, ihr Material potenziellen Kunden anzupreisen. Doch es ließ sich sehr viel schwerer an als erwartet, diese Firma aufzubauen. Sie schrieb an Unternehmen, die ihrer Einschätzung nach von ihrem Know-how profitieren konnten, rief Manager an, die sie kannte, und jagte deren Assistentinnen hinterher. Aber nur wenige meldeten sich bei ihr zurück. In den ersten Monaten ihrer Selbstständigkeit veränderte sich Ericas Persönlichkeit. Bis dahin hatte sie die üblichen menschlichen Bedürfnisse gehabt: Nahrung, Wasser, Schlaf, Zuneigung, Erholung und so weiter. Jetzt hatte sie nur noch ein Bedürfnis: Kunden. Jeder Gedanke, jede Unterhaltung bei Tisch und jede zufällige Begegnung wurden an diesem Maßstab gemessen. Sie gab sich große Mühe, jeden Tag produktiv zu sein, aber je mehr Mühe sie sich gab, umso weniger schaffte sie. Obendrein geriet sie in einen Teufelskreis der Angst. Sie achtete genau darauf, jede Nacht genug Schlaf zu bekommen, aber je stärker sie sich auf den Schlaf konzentrierte, umso weniger bekam sie. Sie bemühte sich verbissen, neue Informationen aufzunehmen, doch je mehr sie sich anstrengte, umso weniger neues Wissen blieb in ihrem Gedächtnis haften.
    Erica war schon immer eine Nachteule gewesen. Die meisten Menschen sind morgens geistig besonders rege. Etwa zehn Prozent sind es um die Mittagszeit, und etwa 20 Prozent aller Erwachsenen sind nach 18 Uhr am muntersten – die Nachteulen. 10 In dieser Phase ihres Lebens wurde aus Ericas abendlicher Munterkeit allerdings eine die ganze Nacht währende Schlaflosigkeit. Die Zeit veränderte ihre Gestalt. Früher war sie in einem friedlichen, stetigen Tempo geflossen, jetzt war sie ein wilder, tosender Strom. Wenn sie an einer Tankstelle haltmachte, kalkulierte sie im Stillen, wie viele E-Mails sie auf ihrem BlackBerry versenden konnte, während der Tank gefüllt wurde. Jedes Mal, wenn sie vor einem Aufzug warten musste, zog sie ihr Handy aus ihrer Tasche und schrieb SMS. Sie aß an ihrem Schreibtisch, damit sie E-Mails schreiben konnte, während sie kaute. Fernsehen und Kino verschwanden aus ihrem Leben. Sie bekam Nacken- und

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