Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
Vom Netzwerk:
Überzeugung, dass sie sich ein besonderes Fachwissen aneignen müsse, das ihr dabei half, die Probleme ihrer Klienten zu lösen. Sie bräuchte Kenntnisse, die einen Bezug zu ihrem Interesse an Kultur und gründlicher Entscheidungsfindung hätten, die aber auch am Markt begehrt waren. Sie musste eine für Geschäftsleute verständliche – also vertraute und zugleich wissenschaftliche – Sprache finden, um das Verhalten der Verbraucher aus psychologischer Sicht zu erklären. Und so stieß sie auf die Verhaltensökonomie.
    Im Verlauf der letzten zehn Jahre hatte eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern daran gearbeitet, die Erkenntnisse der kognitiven Revolution für ihre Disziplin fruchtbar zu machen. Ihr Hauptargument, das Erica sehr überzeugend fand, lautete, dass die klassische Volkswirtschaftslehre die menschliche Natur teilweise oder weitgehend verkannt habe. Der Mensch, wie ihn die klassische Wirtschaftstheorie sieht, ist konstant in seinem Verhalten, geistvoll, besonnen und lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Er betrachtet die Welt mit einer Reihe unheimlich exakter Modelle im Kopf und antizipiert, was sich als Nächstes ereignen wird. Er hat ein phänomenales Gedächtnis; er kann eine Vielzahl von Entscheidungsoptionen mental verfügbar halten und ihre jeweiligen Vor- und Nachteile abwägen. Er weiß genau, was er will, und schwankt nie zwischen gegensätzlichen Wünschen. Er strebt danach, seinen Nutzen (worin auch immer der besteht) zu maximieren. Alle seine Beziehungen sind kontingent, vertragsgebunden und kurzlebig. Wenn eine Beziehung nicht nutzenmaximierend ist, tauscht er sie gegen eine andere ein. Er ist vollkommen selbstbeherrscht und kann Impulse zügeln, die ihn davon abhalten könnten, mit anderen zu konkurrieren. Emotionen färben nicht auf ihn ab, und Gruppenzwang kennt er nicht, sondern er trifft seine Entscheidungen allein auf der Basis von Anreizen.
    Die klassischen Ökonomen räumen ohne Weiteres ein, dass es solche Menschen eigentlich nicht gibt. Aber sie behaupten, dass diese Karikatur der Wirklichkeit immerhin so nahe komme, dass sie damit Modelle entwerfen können, die reales menschliches Verhalten zutreffend vorhersagen. Außerdem erlaubt ihnen die Karikatur, strenge mathematische Modelle zu entwickeln, die in der Zunft der Ökonomen als Beleg einer wahrhaft genialen Begabung gelten. Mit Hilfe dieser Karikatur können sie die Volkswirtschaftslehre von einer etwas ungenauen, weniger stringenten Disziplin wie der Psychologie in eine exakte, strenge und objektive Wissenschaft wie die Physik verwandeln. Sie gestattet ihnen, das menschliche Verhalten in das Korsett von Gesetzen zu zwingen und sich die gewaltige Macht der Zahlen nutzbar zu machen. M. Mitchell Waldrop formulierte es folgendermaßen: »Theoretische Ökonomen nutzen ihre hervorragenden mathematischen Fähigkeiten zu dem gleichen Zweck, zu dem die Großhirsche der Wälder ihre Geweihe benutzen: um miteinander zu kämpfen und eine Rangordnung herzustellen. Ein Hirsch, der sein Geweih nicht gebraucht, gilt nichts.« 12
    Verhaltensökonomen halten dagegen, dass die Karikatur nicht so wirklichkeitsgetreu sei, dass sie zuverlässige Vorhersagen über reale Ereignisse ermögliche. Die beiden Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky, Begründer der Prospect Theory, der Neuen Erwartungstheorie, waren die Vorreiter in diesem Zusammenhang. Dann wurden ihre Erkenntnisse von den Ökonomen im engeren Sinne übernommen, u. a. von Richard Thaler, Sendhil Mullainathan, Robert Shiller, George Akerlof und Colin Camerer. Diese Wissenschaftler erforschten kognitive Prozesse, die unterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufen. Rationalität wird durch Emotionen eingeschränkt. Menschen fällt es sehr schwer, ihre Selbstkontrolle aufrechtzuerhalten. Sie nehmen die Welt auf verzerrte Weise wahr. Sie werden in hohem Maße vom jeweiligen Kontext beeinflusst. Sie neigen zu sogenanntem Gruppendenken. Am schwersten aber wiegt die Tatsache, dass sie die Zukunft unberücksichtigt lassen; um der gegenwärtigen, unmittelbaren Befriedigung willen opfern wir unser zukünftiges Wohl.
    Wie Dan Ariely in seinem Buch Predictably Irrational schreibt: »Wenn ich aus den in diesem Buch geschilderten Forschungsarbeiten eine zentrale Lehre ableiten sollte, so würde sie lauten, dass wir nur Schachfiguren in einem Spiel sind, dessen treibenden Kräfte sich weitgehend unserem Verständnis entziehen. Wir glauben für gewöhnlich, dass wir am Ruder sitzen,

Weitere Kostenlose Bücher