Das soziale Tier
»Was will das Kohlenstoffatom tun?«
Weisheit besteht nicht darin, bestimmte Fakten zu kennen beziehungsweise das Wissen eines Fachgebiets zu besitzen. Sie besteht darin, zu wissen, wie man mit Wissen umgehen sollte: selbstsicher, aber nicht allzu selbstsicher; abenteuerlustig, aber nicht abgehoben. Sie basiert auf der Bereitschaft, sich mit empirischen Befunden auseinanderzusetzen, die der eigenen Überzeugung zuwiderlaufen, und ein Gefühl für die riesigen, noch immer unerforschten Regionen zu entwickeln. Keine dieser Eigenschaften war bei Harrison besonders stark ausgeprägt.
Zeit zu gehen
Erica arbeitete mit Menschen zusammen, die trotz ihrer beeindruckenden Intelligenz an den leichtesten Aufgaben scheiterten. Im Laufe der Monate konnte sie die Unzulänglichkeiten ihrer Kollegen immer weniger ertragen. Deren Fähigkeit, Chancen zu versäumen und immer wieder die gleichen Fehler zu machen, machte sie sprachlos. Wie so oft in ihrem neuen Leben fühlte sich Erica auch hier ein Stück weit als Außenseiterin. Vielleicht weil sie so anders aufgewachsen war, eine andere Hautfarbe hatte oder aus irgendeinem anderen Grund, schien sie sich der irrationalen, dunklen und leidenschaftlichen Seiten des Lebens stärker bewusst zu sein. Eines Tages, als sie besonders aufgebracht war, entschied sie, halb im Scherz, sie sei auf der Erde, um einen göttlichen Auftrag zu erfüllen: den weißen Mann vor sich selbst zu retten.
Da der Allmächtige ein Gott ist, der den Menschen Prüfungen auferlegt, hatte er Vorstadt-Kids aus der Mittelschicht auf die Erde geschickt, die auf Spießer-Highschools, Polo-Shirt-Colleges und Wirtschaftshochschulen gingen, wo alkoholfreies Bier getrunken wurde, und die anschließend ausgespuckt wurden in die von Mineralwasser beherrschte Welt der US-Konzerne. Deren engster Kontakt mit der Wirklichkeit bestand in gelegentlichen Abstechern zu Raststätten auf gebührenpflichtigen Autobahnen. Ihre Anschauungen basierten auf der Annahme, dass sich die Welt in einem makellosen Gleichgewicht befinde. Solange alle so zivilisiert und freundlich waren wie sie selbst, schien ihre Art zu denken einleuchtend. Solange alles sauber und ordentlich war, konnten sie sich zurückziehen und innerhalb der Formeln leben, die sie in der Schule gelernt hatten.
Doch da die Welt nicht sauber und freundlich ist, waren sie meistens bedauernswerte Naivlinge. Sie fielen auf die Tricks des Milliardenbetrügers Bernie Madoff rein, auf Ramsch-Hypotheken und Finanzderivate, die sie nicht durchschauten. Sie gingen jedem schwachsinnigen Managementtrick auf den Leim, jeder Spekulationsblase. Sie irrten im Nebel umher, gezogen von tieferen Kräften, die sie nicht durchschauten.
Zum Glück hatte Gott in seiner unendlichen, erlösenden Gnade auch eine schmächtige Frau chinesisch-mexikanischer Abstammung mit Waschbrettbauch auf die Erde gesandt, um die Unschuldigen zu retten. Dieses ernste, streitlustige, hyper-organisierte menschliche Filofax würde die überbehüteten Massen aus ihrem wohlgeordneten Elfenbeinturm befreien und sie in die Unterwelt der Wirklichkeit einführen. Gott hatte seine Dienerin in Chaos und Schmutz aufgezogen, damit sie genügend Wissen, Elan und Essig in ihrem Blut hätte, um den weißen Mann aus der Behaglichkeit seiner Kategorien zu schubsen und ihm dabei zu helfen, die verborgenen Kräfte zu erkennen, die den Geist tatsächlich antreiben. Gott hatte Erica mit der Stärke und dem schlechten Benehmen bewaffnet, die sie bräuchte, um die Bürde der gelblich-braunen Frau auf sich zu nehmen und den Weg zur Rettung der Erde zu ebnen.
Im Lauf der Monate langweilte sich Erica immer stärker bei der Arbeit, und die Denkgewohnheiten der Gruppe frustrierten sie zusehends. Abends machte sie lange Spaziergänge, auf denen sie sich ausmalte, was sie täte, wenn sie selbst eine Abteilung leiten oder einen Betrieb führen würde. Während sie so dahinschritt, tippte sie ihre Ideen eifrig in den Memo-Abschnitt ihres iPhones. Auf diesen Spaziergängen wurde sie fast euphorisch, als wäre sie zu etwas Großem berufen. Ihr wurde bewusst, dass ihre Fantasie ihren gegenwärtigen Job schon längst überholt hatte. Sie war rastlos. Es gab kein Zurück.
Erica begann darüber nachzudenken, ob sie eine eigene Unternehmensberatung gründen solle. Sie beschloss, das Für und Wider eines solch risikoreichen Unternehmens sorgfältig abzuwägen, doch da ihre Gefühle mit ihr durchgingen, manipulierte sie die Übung von Anfang an. Sie
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