Das soziale Tier
Kreuzschmerzen. Morgens starrte sie auf das unleserliche Gekritzel, das sie sich am Vorabend notiert hatte, und war unfähig, es zu entziffern.
Sie tat Dinge, die sie nie für möglich gehalten hätte – sie stattete potenziellen Klienten unangemeldete Besuche ab und schluckte dann stillschweigend deren herablassende Geringschätzung. Sie hatte ihre Firma mit hochfliegenden Träumen gegründet, aber jetzt war es vor allem die Angst vor dem Scheitern, die sie antrieb. Es war der Gedanke an die Blicke, die ihr Freunde und ehemalige Kollegen zuwerfen würden, wenn ihre Firma Konkurs machte, der sie durchhalten ließ. Es war die Aussicht, ihrer Mutter sagen zu müssen, dass sie pleite sei.
Seit der Academy war sie eine getriebene Person, aber jetzt wurde sie zu einer detailversessenen Pedantin. Sie überreichte potenziellen Klienten kleine Ringbücher mit ihren Konzepten und Angeboten. Wenn eine Seite schief eingelegt oder eine Plastikspirale verzogen war, ging sie an die Decke. Andere mochten halbherzig bei der Sache sein – sie nicht.
Und Erica glaubte an ihr Produkt. Sie glaubte, dass es verborgene Wissensströme gebe und dass sie die Welt verändern könne, wenn sie ihre Klienten dazu brächte, diese zu sehen. Sie wollte Menschen in die Lage versetzen, tiefere Schichten der Wirklichkeit zu erkennen und so Dienstleistungen effizienter zu erbringen. Aber sie musste ein paar Hindernisse beiseite räumen. Wenn sie von Kultur sprach, wussten ihre potenziellen Klienten nicht, was sie meinte. Sie wussten vage, dass Kultur etwas Wichtiges ist. Sie sprachen ehrfurchtsvoll von »Unternehmenskultur«, konnten aber nichts Konkretes damit verbinden. Sie hatten Tabellenkalkulation und Rechnungswesen gelernt – soziologische und anthropologische Kategorien ernst zu nehmen war kaum vorstellbar. Für sie war das alles heiße Luft.
Wenn Erica über verschiedene ethnische Kulturen sprach, brach ihnen der kalte Schweiß aus. Dass eine Amerikanerin chinesisch-mexikanischer Abstammung über Einkaufspräferenzen von Schwarzen und Weißen, jüdischen Großstädtern und protestantischen Landbewohnern sprach, mochte vielleicht noch angehen. Aber die überwiegend weißen Führungskräfte selbst waren durch langjährige Bewusstseinsschulung darauf getrimmt worden, in öffentlichen Äußerungen niemals und unter keinen Umständen solche Kategorien zu verwenden. Treffe keine Pauschalurteile über eine Gruppe von Menschen, mach keine Bemerkungen über eine Minderheit, und äußere dich um Gottes willen keinesfalls in der Öffentlichkeit in diesem Sinne! Das war ein Karrierekiller. Sie konnten lachen, wenn der Komiker Chris Rock rassistische Witze machte. Sie konnten zuhören, wenn Erica auf kulturelle Unterschiede hinwies. Aber sie selbst durften sich niemals zu solchen Äußerungen hinreißen lassen, wenn sie nicht mit Rassismus-Vorwürfen, Prozessen wegen Diskriminierung und Boykotten rechnen wollten. Als Erica sie aufforderte, in ethnischen und kulturellen Kategorien zu denken, verspürten sie den starken Drang, vor Schreck aus dem Zimmer zu laufen.
Erica hatte noch dazu das Pech, ihr Unternehmen ausgerechnet zu der Zeit zu gründen, als das Neuromarketing seinen Höhepunkt erreichte. Glamouröse Neurologen pilgerten mit Hirnschnittaufnahmen aus Kernspintomografen von einer Konferenz zur nächsten und versprachen dabei, die geheime synaptische Formel zur Förderung des Absatzes von Toilettenpapier oder Energieriegeln offenzulegen.
Der typische Vertreter dieser Marketingrichtung war ein 1,80 Meter großer, glatzköpfiger, cooler Akademiker, der in Lederjacke, Jeans und Stiefeln zu Marketingkonferenzen erschien. Er trug immer einen Motorradhelm unterm Arm, als käme er frisch aus der Neuverfilmung von Grease durch einen Neurowissenschaftler. Auf Schritt und Tritt folgte ihm ein Kamerateam des finnischen Fernsehens, das eine Dokumentation über sein Leben und seine Ideen drehte, und er flüsterte seinen Klienten falsche Vertraulichkeiten zu, während er das Umhängemikrofon abdeckte, das immer an seinem T-Shirt befestigt war.
Seine PowerPoint-Präsentation war poliert wie Edelchrom. Er begann mit einer Reihe optischer Täuschungen, wie der mit den beiden Tischplatten, die völlig verschieden aussehen, aber genau die gleiche Größe und Gestalt haben, oder der mit dem Bild von der alten Hexe, die plötzlich vor dem geistigen Auge kippt und zu einer schönen Frau mit Hut wird. Wenn er mit seinen optischen Täuschungen durch war, machten
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