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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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so:
    Unter dem Oberflächenstrom, seicht und licht,
    was wir zu fühlen sagen – unter dem Strom,
    wie Licht, was wir zu fühlen meinen – da fließt
    in lautlosen Fluten stark, dunkel und tief,
    der Hauptstrom dessen, was wir wirklich fühlen. 3
    Harold gelang es nicht, fünf Minuten einmal nicht an Erica zu denken. Wenn er allein die Straße hinunterging, glaubte er alle paar Blocks ihr Gesicht in der Menge zu sehen. Er aß nur selten und vernachlässigte seine Freunde. Seine ganze Stimmung war gehoben. Dinge, die ihn gelangweilt hatten, fand er jetzt wunderbar. Menschen, die ihn früher genervt hatten, machten jetzt einen herzlichen und freundlichen Eindruck auf ihn. Wenn sich Mauerschwalben paaren, flattern sie in einem Zustand der Raserei wild von einem Ast zum anderen. Harold hatte jetzt die Energie, um die ganze Nacht wach zu bleiben und ohne Pause zu arbeiten.
    Er beschwor immer wieder die Erinnerungen an bestimmte Szenen herauf, die sich ereignet hatten, seitdem sie zum ersten Mal ihre Hand in seine gleiten ließ – ein chinesisches Abendessen in ihrer Wohnung, ihr erster Sex. Beim Joggen malte er sich lang und breit aus, wie er sie heldenhaft vor Schaden bewahrte (irgendetwas am Joggen und den chemischen Substanzen, die es in seinem Gehirn ausschüttete, erzeugte diese heroischen Tagträumereien).
    Zu einem anderen Zeitpunkt überkam ihn unvermittelt die Furcht, sie zu verlieren. Es gibt ein Gedicht eines Kwakiutl-Indianers aus dem 19. Jahrhundert, das Harolds glühende Leidenschaft auf den Punkt bringt: »Feuer fließen durch meinen Körper – /der Schmerz, Dich zu lieben./ Schmerz fließt durch meinen Körper mit der Glut meiner Liebe zu Dir. / Krankheit streift durch meinen Körper mit meiner Liebe zu Dir. /… /Schmerz wie von einer Eiterbeule, die gefüllt mit meiner Liebe zu Dir aufplatzt. /Ich erinnere mich an Deine Worte. /Ich denke an Deine Liebe zu mir. /Deine Liebe zu mir zerreißt mich.« 4
    Laut Studien von Faby Gagné und John Lydon glauben 95 Prozent der Menschen, die verliebt sind, dass ihr gegenwärtiger Partner in Bezug auf Aussehen, Intelligenz, Herzlichkeit und Humor überdurchschnittlich gut abschneidet (während sie ihre Verflossenen als engstirnig, emotional instabil und generell unangenehm schildern). 5 Harold war da keine Ausnahme. Er praktizierte die schönste Form der Selbsttäuschung und hielt Erica in jeder Hinsicht für perfekt.
    Harold erlebte das, was Stendhal »Kristallbildung« nannte. In seinem Essay Über die Liebe beschreibt Stendhal ein Salzbergwerk in der Nähe von Salzburg, wo Arbeiter entblätterte Äste in einen verlassenen Schacht der Mine werfen. Als sie die Äste nach zwei oder drei Monaten wieder hervorholen, sind sie von glitzernden, diamantähnlichen Kristallen überzogen, die unglaublich schön sind. »In diesem Sinne nenne ich Kristallbildung die schöpferische Tätigkeit unseres Geistes, der bei jeder neuen Betrachtung der Geliebten immer neue Vorzüge an ihr entdeckt«, schreibt Stendhal. 6
    Das ist das, was die unbewussten Kundschafter unseres Gehirns tun: Sie laden Menschen, Orte und Objekte mit emotionaler Bedeutung auf. Sie überziehen die Objekte unserer Liebe mit einem glitzernden, unwiderstehlichen Licht. Sie veranlassten Harold, Erica noch mehr zu lieben. Was bedeutete, dass er kein Interesse an anderen Frauen hatte. Und dass er von nichts anderem träumte als von ihr.
    Motivation
    Wenn man Harold gefragt hätte, welche Gefühle Erica in ihm wecke, hätte er geantwortet, er fühle sich so, wie wenn eine überlegene äußere Kraft Macht über sein Leben gewonnen hätte. Er konnte jetzt verstehen, weshalb sich die Heiden die Liebe als eine Gottheit vorstellten. Es fühlte sich wirklich so an, als hätte ein übernatürliches Wesen von ihm Besitz ergriffen, seinen Geist umgestaltet und ihn in eine höhere Sphäre gehoben.
    Das Seltsame ist, dass, wenn man ins Innere von Harolds Gehirn geschaut hätte, während er sich in diesem verzückten Zustand befand, man keinen getrennten, magischen Teil seines Gehirns gefunden hätte, der in Flammen stand. Helen Fishers Forschungen über die Hirnaktivität von Menschen, die sehr verliebt sind, zeigen, dass in Momenten intensiver Verliebtheit einige der »prosaischen« Teile des Gehirns am aktivsten sind – Teile wie der Nucleus caudatus und die Area tegmentalis ventralis ( ATV ). Der Nucleus caudatus zum Beispiel hilft uns bei der Ausführung äußerst banaler, alltäglicher Aufgaben. Er ist der Sitz des

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