Das soziale Tier
zusammenzufassen, aber ein gutes Drittel bestand darin, Erica Konzepte durchzusehen und ihr dabei zu helfen, sie zu verbessern.
Als sie sich das erste Mal zusammensetzten, hätte Erica vor Dankbarkeit beinahe geheult. Harold besaß die Fähigkeit, etwas zu lesen und sofort zu verstehen, worauf der Verfasser hinauswollte. Wenn er ihr Rückmeldung zu ihren Konzeptentwürfen gab, hatte Erica das überwältigende Gefühl, dass ihr jemand konzentriert zuhörte und sie wirklich verstand. Schon der Hauch einer Idee genügte, um Harold zu elektrisieren. Über Teile ihres Entwurfs schwärmte er, was ihr das Gefühl gab, ein absoluter Star zu sein. Einige Abschnitte unterstrich er drei Mal und sah sie voller Bewunderung an, so als könne er es schier nicht glauben, dass sie von ihr stammten. Die schwächeren Abschnitte betrachtete er als Goldminen, die einfach noch nicht erschlossen worden waren. Erica neigte dazu, vage, hochfliegende Sätze aneinanderzureihen, um auf diese Weise die Tatsache zu verschleiern, dass das entsprechende Konzept in ihrem Kopf noch reichlich verschwommen war. Harold strich sie und nahm Abschnitte heraus, die keinen Sinn ergaben. Anschließend füllte er die Lücken. Er entwickelte die Fähigkeit, ihre Ausdrucksweise nachzuahmen und in ihrem Stil zu denken, und er ließ sie intelligenter klingen, als sie tatsächlich war. Als Redakteur war er ein absoluter Glücksgriff. Es machte ihm Spaß, seine Eitelkeit zurückzunehmen und unter dem Namen eines anderen zu schreiben.
Nach sechs Monaten verständigten sie sich in ihrem eigenen Code, und schon wenige Buchstaben genügten, um zu verdeutlichen, was noch zu tun war. Erica taute allmählich auf und machte sogar Witze. »Ich hab das hier einfach nicht hinbekommen«, schrieb sie einmal, und das war für sie schon ein großes Eingeständnis von Schwäche. Manchmal gingen sie Chicken Wings essen und bearbeiteten die Berichte gemeinsam. Als sie einmal mit einem Klienten unterwegs war, beendete er seine E-Mail mit der Bemerkung: »Ich vermisse dich.« Sie antwortete per Blackberry: »Ich vermisse dich auch.«
Sie suchte damals nicht gezielt nach einem Partner, und Harold war nicht der Typ Mann, mit dem sie eines Tages eine Beziehung eingehen wollte. Er war nicht so stark wie sie. Er war keine geborene Führungspersönlichkeit. Er war der Typ Mann, den sie zum Frühstück verspeisen konnte. Doch im Lauf der Monate stellte sie fest, dass sie ihn wirklich mochte. Er war ein guter Kerl. Er wünschte ihr von Herzen, dass sie Erfolg hätte.
Eines Nachmittags, nach ein paar anstrengenden Stunden der Arbeit, schlug Harold eine Fahrradtour vor. Erica war seit Jahren nicht mehr Fahrrad gefahren und besaß keines. Harold sagte, sie könnten sich das Fahrrad seines Zimmergenossen leihen. Sie fuhren zu seiner Wohnung, wo Erica noch nie gewesen war, begegneten dort seinem gut gebauten und äußerst charmanten Mitbewohner, den Erica zum ersten Mal sah, und machten dann eine Radtour. Erica hatte ihre Trainingssachen an, Harold trug gewöhnliche Shorts und ein T-Shirt. Er war so nett gewesen, Erica den weniger scheußlichen der beiden Fahrradhelme zu überlassen. Sie fuhren gut 15 Kilometer weit, und natürlich musste Erica ihn überholen, wenn es bergauf ging, nur um zu zeigen, dass sie es konnte. Sie gelangten an den Fuß eines steilen Hügels, der sich über einem See erhob, und Erica setzte sich wieder von ihm ab und lachte, als sie ihn hinter sich ließ. Nach etwa 30 Metern schloss Harold zu ihr auf. Er überholte sie nicht einfach, sondern schoss regelrecht an ihr vorbei, als würde sie rückwärts fahren. Ein breites Lächeln stand in seinem Gesicht, und sein Atem war kaum angestrengt. Sie hatte nicht geahnt, dass er diese Kraft in sich hatte.
Harold hielt oben auf dem Hügel an und betrachtete sie, wie sie schnaufend in die Pedale trat. Er hatte noch immer das breite Grinsen im Gesicht, und sie lachte, während sie um Atem rang. Als sie neben ihm hielt, trafen sich ihre Blicke. Erica sah tiefer in Harolds Augen, als sie es je zuvor getan hatte, und sie sah durch sie hindurch auf einige Dinge, die ihm lieb und teuer waren: seine Flag-Football-Spiele, seinen mit Büchern vollgestopfen Rucksack, seine Begeisterung für sie und für ihre gemeinsamen Projekte.
Mit gespreizten Beinen standen sie über ihren Fahrrädern oben auf dem Hügel und genossen die Aussicht auf das Wasser. Da ließ Erica ihre Hand in die von Harold gleiten. Harold war erstaunt, wie rau und hart
Weitere Kostenlose Bücher