Das soziale Tier
Erica nach ungefähr einer Minute das Wort ab. »Ich will Ihnen sagen, wer ich bin und was für einen Mitarbeiter ich suche.« Sie gab ihm einen raschen Abriss ihrer Lebensgeschichte und beschrieb die Unternehmensberatung, die sie gegründet hatte. Sie war vollkommen ehrlich in Bezug auf die Schwierigkeiten, die sie bislang gehabt hatte. »Ich suche jemanden, der sich in die Verhaltensökonomie und verwandte Forschungsgebiete einarbeitet und der mir dabei hilft, ein Alleinstellungsmerkmal zu finden – eine Reihe von Werkzeugen, mit denen wir die Bedürfnisse unserer Klienten befriedigen können.« Sie sprach sehr schnell, weil sie sich unbehaglich und ein wenig nervös fühlte, auch wenn sie sich dies niemals eingestanden hätte.
Harold hatte mittlerweile Dutzende von Vorstellungsgesprächen hinter sich und beherrschte als alter Hase seine entwaffnenden Tricks perfekt. Aber er kam diesmal nicht dazu, sie anzuwenden. Stattdessen verkrampfte er sich in Reaktion auf ihren knappen, deutlichen Tonfall. Trotzdem mochte er sie. Er war hingerissen von ihrem Lebenslauf und ihrem taffen, ehrgeizigen Auftreten. Besonders gefiel ihm der Umstand, dass sie nicht wissen wollte, wo er sich beruflich in zehn Jahren sehe, oder ihm irgendeine andere dieser blödsinnigen Fragen stellte.
Ihre Nachfragen waren präzise und konkret. Ob er wisse, wer Daniel Kahneman sei? (Nein.) Was für Forschungsprojekte er bereits durchgeführt habe? (Er bauschte seine Verantwortlichkeiten ein wenig auf.) Kannte er sich mit Fact-Checking aus? (Ja.) Erst am Ende stellte sie ihm eine Reihe ungewöhnlicher Fragen. Sie bat ihn, die Kultur auf seinem College zu beschreiben. Was sei der Unterschied zwischen der Arbeit für ein politisches Magazin und der Tätigkeit für ein gewinnorientiertes Unternehmen?
Das Gespräch dauerte nur 25 Minuten. Sie stellte ihn ein. Er verlangte 55 000 Dollar im Jahr, und sie bot ihm 60 000 Dollar, mit der Zusage, sein Gehalt mit steigendem Umsatz zu erhöhen.
Da sie kein Büro hatte, trafen sie sich etwa dreimal pro Woche in ihrer Küche; ansonsten arbeitete er bei sich zu Hause. Sie hielt die Küche spärlich eingerichtet, um ihr wenigstens den Anschein eines professionellen Umfeldes zu geben, und die Tür zum Schlafzimmer war stets geschlossen. An der Kühlschranktür waren keine Magneten angebracht, und nirgendwo waren Bilder von Freunden oder Verwandten Ericas zu sehen. Harold war beeindruckt von ihrem Besteck und Geschirr. Er benutzte noch immer die Sachen, die er während seiner Zeit auf dem College erworben hatte – ein Abtropfgestell fürs Geschirr, dieselben sechs Töpfe und Pfannen, einen Flaschenöffner, den er gratis von einer Bierbrauerei bekommen hatte. Erica, die mehr oder weniger genauso alt war wie er, hatte eine Küche für Erwachsene.
Von einigen geschäftlichen Abläufen bekam er nichts mit. So ließ sie ihn nie potenzielle Klienten treffen. Er wusste nicht, wie viel Arbeit es kostete, einen Termin mit einem Kunden zu ergattern. Sie schickte ihm eine E-Mail mit dem Namen des potenziellen Klienten, einer genauen Beschreibung des Problems, das es zu lösen galt, und einer Liste von Dingen, die sie erledigen müssten, um den Auftrag zu bekommen. Harold vertiefte sich in seine Recherchen, schlief tagsüber, arbeitete nachts und kam dann bei ihr vorbei, um ihr die Ergebnisse seiner Arbeit zu präsentieren. Sie begrüßte ihn freundlich, aber bestimmt, mit chinesischem Tee und geschnittenen Karotten.
Das Geschäft zog an, die Aufträge folgten Schlag auf Schlag. Ein Unternehmen suchte nach Möglichkeiten, um die Mauer zwischen seinen Ingenieuren und der Marketingabteilung niederzureißen, ein anderes nach Wegen, um jungen Leuten Bankprodukte schmackhaft zu machen. Erica machte Harold unmissverständlich klar, was sie von ihm erwartete, und gab ihm Tipps, wo er die gesuchten Informationen finden könne. Er fühlte sich wohl mit ihr, und die Arbeit machte ihm wirklich Spaß. Wenn es Momente gab, in denen ihr Verhältnis richtig aufblühte, dann während des Redigierens der Konzeptentwürfe.
Erica zog einen Auftrag an Land und traf sich dann mehrmals mit dem Klienten. Harold setzte sie derweil darauf an, die entsprechende Marktforschung zu betreiben. Er sammelte eine Reihe von Hintergrundinformationen und verfasste Entwürfe, auf deren Grundlage sie dann ein Konzept entwickelte, das sie an den Klienten schickte. Etwa zwei Drittel von Harolds Arbeit bestanden darin, Recherchen durchzuführen und diese
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