Das soziale Tier
wurden. Wenn wir dorthin zurückkehren, wo wir aufgewachsen sind, spielen Details die wichtigste Rolle – der Umstand, dass die Drogerie sich noch immer dort befindet, wo sie war, als wir jung waren; dass der Park noch immer von demselben Zaun umgeben ist; dass im Winter noch immer das gleiche Licht herrscht; und dass der Zebrastreifen, den wir als Kinder benutzten, noch da ist. Wir mögen diese Dinge nicht wegen ihres praktischen Nutzens, weil etwa der Zebrastreifen der beste aller möglichen Zebrastreifen wäre. Wir überziehen unseren Geburtsort mit einer besonderen Schicht der Zuneigung, weil uns hier lauter altbekannte Muster wiederbegegnen. »Ein Kind mag einen mürrischen alten Gärtner, der kaum je Notiz von ihm genommen hat, und schreckt vor dem Besucher zurück, der alles daran setzt, um seine Beachtung zu finden«, schrieb C. S. Lewis einmal. »Aber es muss ein alter Gärtner sein, einer, der ›immer‹ da gewesen ist – das kurze, aber scheinbar uralte ›immer‹ der Kindheit.« 17
Der Wunsch nach Limerenz wird umfassend erfüllt in jenen transzendenten Momenten, wenn Menschen das Gefühl haben, mit der Natur oder mit Gott zu verschmelzen, wenn sich die Seele erhebt und ein Gefühl der Einheit mit der Welt ihr Wesen durchdringt.
Am wichtigsten aber ist, dass Menschen nach Limerenz mit anderen Menschen streben. Zwei Wochen nach ihrer Geburt schreien Babys, wenn sie ein anderes Baby hören, das schreit, aber nicht, wenn sie eine Aufnahme ihres eigenen Schreiens vorgespielt bekommen. 18 Im Jahr 1945 führte der österreichische Mediziner René Spitz eine Untersuchung in einem amerikanischen Waisenhaus durch. 19 Das Waisenhaus selbst war blitzsauber. Auf acht Babys kam eine Krankenschwester. Die Babys waren wohlgenährt, aber sie wurden den ganzen Tag allein gelassen, angeblich, um ihr Ansteckungsrisiko zu verringern. Aus dem gleichen Grund wurden auch Leintücher zwischen die Kinderbettchen gehängt. Ungeachtet der hygienischen Vorsichtsmaßnahmen starben 37 Prozent der Babys vor dem Erreichen des zweiten Lebensjahrs. Ihnen fehlte etwas Wesentliches, das sie zum Leben brauchten: menschliche Nähe und Wärme.
Menschen fühlen sich von ihresgleichen angezogen. Wenn wir neue Menschen kennenlernen, beginnen wir sofort, unser Verhalten an das ihre anzupassen. Muhammad Ali, der phänomenal reaktionsschnell war, brauchte 190 Millisekunden, um eine Lücke in der Abwehr seines Gegners zu entdecken und ihm einen Schlag zu versetzen. Eine durchschnittliche College-Studentin braucht 21 Millisekunden, um ihre Bewegungen unbewusst auf die ihrer Freunde abzustimmen. 20
Freunde, die in ein Gespräch verwickelt sind, fangen an, ihre Atemrhythmen wechselseitig nachzuahmen. Menschen, die aufgefordert werden, ein Gespräch zu beobachten, beginnen, die Körpersprache der Menschen, die sich miteinander unterhalten, zu imitieren, und je genauer sie die Körpersprache nachmachen, umso besser können sie sich in die Beziehung, die sie beobachten, einfühlen. Auf einer noch tieferen Ebene führen Pheromone dazu, dass sich die Menstruationszyklen von Frauen, die zusammenleben, einander angleichen.
Wie der Neurowissenschaftler Marco Iacoboni schreibt, ist »nachempfinden« als Wort nicht stark genug, um die Wirkung dieser mentalen Prozesse zu beschreiben. 21 Wenn wir die Freude eines anderen Menschen spüren, beginnen wir das Lachen dieser Person so zu erleben, als wäre es unser eigenes. Wenn wir qualvolle Schmerzen sehen, sogar, wenn sie nur auf einer Kino-Leinwand stattfinden, spiegelt unser Gehirn diese Schmerzen in schwächerer Weise wider, so als würden wir sie selbst erleben.
»Wenn Dein Freund ein alter Freund geworden ist, wird all das an ihm, was ursprünglich nichts mit der Freundschaft zu tun hatte, vertraut und aus Vertrautheit lieb und teuer«, schreibt C. S. Lewis. 22 Die Liebe eines Freundes, so fährt Lewis fort, »frei von allen Pflichten als jenen, die die Liebe aus freien Stücken auf sich genommen hat, fast gänzlich bar jeglicher Eifersucht, und ohne jede Einschränkung frei von dem Bedürfnis, gebraucht zu werden, ist in höchstem Maße spirituell. Es ist die Art von Liebe, die zwischen Engeln bestehen mag.« 23
Wenn sich Menschen einer Gruppe zugehörig fühlen, verspüren sie intuitiv einen starken Druck, sich an deren Normen anzupassen. Solomon Asch führte ein berühmt gewordenes Experiment durch, in dem er Menschen drei offensichtlich verschieden lange Linien zeigte. 24 Anschließend umgab er die
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