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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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soziale Verpflichtungen verstoßen, und Menschen wertzuschätzen, die diese erfüllen. Es gibt keine Gesellschaft auf der Erde, wo Menschen dafür gerühmt werden, dass sie in einer Schlacht das Weite suchen.
    Zwar verstärken Eltern und Schulen solche moralischen Einstellungen, aber wie James Q. Wilson in seinem Buch The Moral Sense schreibt, fallen diese Lehren auf fruchtbaren Boden. 14 So, wie Kinder mit der Fähigkeit zum Spracherwerb und zur Bindung an Mutter und Vater zur Welt kommen, so kommen sie auch mit einer Reihe bestimmter moralischer Vorurteile zur Welt, die verstärkt, modifiziert und weiterentwickelt, aber niemals völlig ersetzt werden können.
    Solche moralischen Urteile – Bewunderung für jemanden, der loyal ist, Verachtung für jemanden, der seinen Ehepartner betrügt – werden sofort und instinktiv gefällt. Sie enthalten subtile Bewertungen. Wenn wir jemanden sehen, der nach dem Verlust eines Kindes von tiefer Trauer überwältigt wird, empfinden wir Mitleid. Wenn wir jemanden sehen, der sich über den Verlust eines Maserati grämt, empfinden wir Verachtung. Sofortiges Mitgefühl und komplexe Urteilsbildung sind eng miteinander verknüpft.
    Wie wir in diesem Buch schon wiederholt erfahren haben, ist der Akt der Wahrnehmung ein hochkomplexer Prozess. Es geht dabei nicht nur darum, eine Situation mit den Sinnen zu erfassen, sondern fast gleichzeitig darum, ihre Bedeutung zu ermessen, sie zu bewerten und eine emotionale Reaktion darauf zu erzeugen. Tatsächlich glauben heute viele Wissenschaftler, dass moralische Wahrnehmungen den ästhetischen oder sinnlichen Wahrnehmungen sehr ähnlich sind und größtenteils in denselben Hirnregionen verarbeitet werden.
    Denken Sie daran, was geschieht, wenn Sie ein neues Nahrungsmittel probieren. Sie müssen nicht bewusst entscheiden, ob Sie es widerlich finden. Sie wissen es einfach. Oder wenn Sie eine Berglandschaft betrachten. Sie müssen kein bewusstes Urteil darüber fällen, ob die Landschaft schön ist. Sie wissen es einfach. Bei moralischen Urteilen verhält es sich in mancher Hinsicht genauso. Es sind rasche intuitive Bewertungen. Forscher am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in den Niederlanden haben herausgefunden, dass bewertende Gefühle, selbst bei so komplizierten Streitfragen wie der Sterbehilfe, schon innerhalb von 200 bis 250 Millisekunden, nachdem eine Stellungnahme vorgelesen wurde, nachweisbar sind. 15 Man muss nicht über Ekel, Beschämung oder Verlegenheit oder auch darüber nachdenken, ob man erröten sollte oder nicht. Es geschieht einfach.
    Wenn wir bei unseren elementarsten Entscheidungen auf vernünftige moralische Urteilsbildung angewiesen wären, wären menschliche Gesellschaften sogar ziemlich schreckliche Orte, da die Tragfähigkeit der Vernunft sehr begrenzt ist. Thomas Jefferson hat diesen Punkt vor Jahrhunderten vorweggenommen:
    Unser Schöpfer wäre ein erbärmlicher Stümper gewesen, wenn er die Regeln unseres moralischen Verhaltens zu einer Sache der Wissenschaft gemacht hätte. Auf einen Wissenschaftler kommen Tausende, die es nicht sind. Was wäre aus ihnen geworden? Der Mensch war für das Leben in der Gesellschaft bestimmt. Seine Sittlichkeit musste daher auf dieses Ziel hin ausgebildet werden. Er war nur in Bezug darauf mit einem Sinn für Recht und Unrecht ausgestattet. Dieser Sinn ist ebenso ein Teil der Natur wie das Gehör, der Seh- und der Tastsinn; er ist die eigentliche Grundlage der Sittlichkeit. 16
    So ist es nicht nur die Vernunft, die uns von den anderen Tieren trennt, sondern auch die hochentwickelte Natur unserer Emotionen, insbesondere unserer sozialen und moralischen Emotionen.
    Moralische Anliegen
    Einige Forscher glauben, wir verfügten über eine allgemeine Fähigkeit zur Empathie, die uns dazu bewege, mit anderen zu kooperieren. Eine Fülle empirischer Befunde deutet hingegen darauf hin, dass Menschen eher mit einer Reihe moralischer Empfindungen auf die Welt kommen, die durch verschiedene Situationen ausgelöst werden.
    Jonathan Haidt, Jesse Graham und Craig Joseph haben diese grundlegenden Dispositionen mit den Geschmacksknospen verglichen. So wie die menschliche Zunge über verschiedene Rezeptortypen zur Wahrnehmung von Süße, Salzigkeit und so weiter verfüge, hätten auch die moralischen Module spezifische Rezeptoren zur Wahrnehmung bestimmter klassischer Situationen. Und so wie verschiedene Kulturen auf der Grundlage einiger gemeinsamer Geschmacksempfindungen verschiedene Küchen

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