Das soziale Tier
aber lassen sich kaum Belege für einen solchen Zusammenhang finden.
Eine Vielzahl von Experimenten, die im Verlauf der letzten hundert Jahre durchgeführt wurden, deutet darauf hin, dass das Verhalten von Menschen nicht von festen Charakterzügen bestimmt wird, die sich unabhängig von der Situation durchsetzen. Schon in den 1920er Jahren gaben die Yale-Psychologen Hugh Hartshorne und Mark May 10 000 Schülern die Gelegenheit, in unterschiedlichsten Situationen zu lügen, zu betrügen und zu stehlen. Die meisten Schüler schwindelten in einigen Situationen, in anderen dagegen nicht. Die Häufigkeit betrügerischen Verhaltens korrelierte nicht mit messbaren Persönlichkeitsmerkmalen oder moralischen Bewertungen. Die meisten Studien aus jüngster Vergangenheit haben dieses Muster bestätigt. Schüler, die zu Hause regelmäßig unehrlich sind, sind dies in der Schule nicht. Menschen, die bei der Arbeit mutig sind, können in der Kirche feige sein. Menschen, die sich an einem sonnigen Tag freundlich verhalten, können am nächsten Tag, wenn es bewölkt ist und sie niedergeschlagen sind, gefühllos sein. Menschliches Verhalten zeigt keine »situationsübergreifende Stabilität«, wie das die Forscher nennen. 6 Vielmehr scheint es sehr stark vom Kontext beeinflusst zu werden.
Die intuitionistische Sicht
Die rationalistischen Annahmen über unsere moralische Architektur werden heute von einer intuitionistischen Auffassung infrage gestellt. Dieser intuitionistische Erklärungsansatz stellt Emotionen und unbewusste Intuitionen ins Zentrum des moralischen Lebens, nicht die Vernunft. Er betont neben den individuellen Entscheidungen die Bedeutung moralischer Reflexe; er betont die Rolle, die Wahrnehmungen bei der moralischen Urteilsbildung spielen, noch bevor es zu logischen Folgerungen kommt. Nach intuitionistischer Auffassung ist nicht der grundlegende Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaften von zentraler Bedeutung, sondern die entscheidende Auseinandersetzung findet innerhalb der Sphäre des Unbewussten selbst statt.
Ausgangspunkt dieses Sichtweise ist die Feststellung, dass wir alle mit tiefverwurzelten egoistischen Trieben geboren werden – dem Drang, uns so viel anzueignen, wie wir können, unseren sozialen Status hochzuspielen, anderen überlegen zu erscheinen, Macht über andere auszuüben und Begierden zu befriedigen. Diese Triebe verzerren unsere Wahrnehmung. Mister Schöner Schein nahm sich nicht bewusst vor, Erica zu benutzen oder ihre Ehe anzugreifen. Er sah in ihr lediglich ein Objekt, an dem er seine Lebensgier befriedigen konnte. In ähnlicher Weise betrachten Mörder ihre Opfer nicht als gleichwertige Menschen. Ihr Unbewusstes muss das Opfer zuerst entmenschlichen.
Der französische Journalist Jean Hatzfeld interviewte für sein Buch Zeit der Macheten Personen, die aktiv an dem Völkermord in Ruanda beteiligt waren. Die ethnische Volksverhetzung stachelte eine mörderische Raserei an. Die Täter begannen ihre Nachbarn auf radikal andere Weise zu sehen als früher. Ein Mann, mit dem Hatzfeld sprach, ermordete einen Nachbarn vom Volk der Tutsi: »Beim ersten Menschen habe ich es überstürzt ausgeführt und mir nichts Besonderes dabei gedacht, obwohl es ein Nachbar war, der auf meinem Hügel ganz in meiner Nähe wohnte. Tatsächlich ist mir erst hinterher bewusst geworden, dass ich meinem Nachbarn das Leben geraubt hatte. Ich will damit sagen, dass ich ihn im todbringenden Moment gar nicht mehr als den erkannt habe, der er für mich vorher gewesen war: Ich erschlug jemanden, der mir nicht mehr vertraut, aber auch nicht fremd war. Er war für mich gar kein gewöhnlicher Mensch mehr, ich meine, wie man ihn tagtäglich trifft. Seine Züge ähnelten nur noch der Person, die ich kannte, aber nichts erinnerte mich mehr verbindlich daran, dass er eine Ewigkeit an meiner Seite gelebt hatte.« 7
Diese tiefen Impulse behandeln bewusste Denkprozesse wie einen Spielball. Sie verzerren nicht nur die Wahrnehmung während der Tat, sie erfinden auch noch Rechtfertigungen im Anschluss daran. Wir reden uns ein, das Opfer unserer Grausamkeit oder unserer Tatenlosigkeit habe es kommen gesehen; die Umstände hätten uns gezwungen, so zu handeln; jemand anderen treffe die Schuld. Der Wunsch modelliert vorbewusst die Form unserer Gedanken.
Aber nicht alle tiefverwurzelten Triebe sind egoistischer Natur, betonen die Intuitionisten. Wir alle sind die Nachfahren von Menschen, die erfolgreich zusammengewirkt haben. Unsere Ahnen
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