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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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philosophieren, wenn wir moralischer werden wollen. Die Intuitionisten raten uns zu interagieren. Es ist schwer oder unmöglich, sich aus eigener Kraft moralischer zu verhalten, aber im Lauf der Jahrhunderte haben unsere Vorfahren Gewohnheiten und Praktiken entwickelt, die uns helfen, unsere besten Intuitionen zu stärken und uns moralische Verhaltensweisen einzuprägen.
    So wird etwa das Alltagsleben in gut funktionierenden Gesellschaften von kleinen Anstandsregeln strukturiert: Frauen verlassen den Aufzug als Erste. Die Gabel liegt links vom Teller. Solche Höflichkeitsregeln mögen trivial erscheinen, doch sie veranlassen uns dazu, unsere Selbstbeherrschung zu üben. Sie verschalten unsere neuronalen Netzwerke im Gehirn neu und verstärken sie zudem.
    Von großer Bedeutung ist das Gespräch. Selbst beim Smalltalk sprechen wir freundlich über diejenigen, die unseren eigenen moralischen Einstellungen gerecht werden, und kühl über diejenigen, bei denen das nicht der Fall ist. Wir tratschen übereinander und verteilen eine Million kleine Marker, die Auskunft darüber geben, welche Verhaltensweisen erwünscht und welche unerwünscht sind. Wir erzählen Geschichten über die, die gegen die Regeln unserer Gruppe verstoßen haben, sowohl um unsere Beziehungen zueinander zu stärken, als auch um uns selbst an die Normen zu erinnern, die uns zusammenhalten.
    Daneben gibt es mentale Einstellungen, die von Institutionen weitergegeben werden. Im Verlauf unseres Lebens durchwandern wir unterschiedliche Institutionen – zuerst die Familie und die Schule, anschließend die Institutionen eines akademischen Berufes oder eines Handwerks. Jede dieser Institutionen bringt bestimmte Regeln und Pflichten mit sich, die uns sagen, wie wir uns verhalten sollen. Sie sind äußere Gerüste, die unseren Geist tief durchdringen. So ist der Journalismus mit bestimmten Regeln verbunden, die Reportern helfen, Distanz zu denjenigen zu wahren, über die sie berichten; Wissenschaftler haben Verpflichtungen gegenüber der Fachwelt. Durch Verinnerlichung der Regeln der Institutionen, in die wir eingebunden sind, werden wir zu den Personen, die wir sind.
    Die Institutionen sind Ideenräume, die bereits vor unserer Geburt existierten und die weiter bestehen werden, wenn wir längst nicht mehr sind. Die menschliche Natur mag von Epoche zu Epoche gleich bleiben, doch die Institutionen verbessern sich und entwickeln sich weiter, weil sie die Hüter mühsam gewonnener Erkenntnisse sind. Der Fortschritt der Menschheit wird bedingt durch den Fortschritt ihrer Institutionen.
    Jedes Mitglied einer Institution hegt eine große Hochachtung für diejenigen, die ihm vorausgingen und die die Regeln aufstellten, die es in Empfang genommen hat. »Durch die Entgegennahme«, schreibt der Politikwissenschaftler Hugh Heclo, »sehen sich die Mitglieder einer Institution selbst als Personen, die etwas schulden, und nicht als Gläubiger, denen etwas geschuldet wird.« 22
    Die Beziehung eines Lehrers zur Kunst des Unterrichtens, die Beziehung eines Sportlers zu seiner Sportart, die Beziehung eines Landwirts zu seinem Grund und Boden beruht nicht auf einem Willensentschluss, der sich ohne Weiteres rückgängig machen ließe, sobald die seelischen Verluste die seelischen Gewinne überwiegen. Es wird immer lange Zeiträume geben, in denen man mehr in seine Institutionen investiert, als man von ihnen bekommt. Institutionen sind deshalb so wertvoll, weil sie unweigerlich mit unserer Identität verschmelzen.
    Im Jahr 2005 wurde Ryne Sandberg in die Baseball Hall of Fame aufgenommen. Seine Rede ist ein Beispiel dafür, wie Menschen sprechen, wenn sie sich über ihre Hingabe an eine Institution definieren: »Jedes Mal, wenn ich das Spielfeld betrat, überkam mich eine ehrfürchtige Scheu. Das ist Achtung. Mir wurde beigebracht, dass man sich gegenüber seinem Gegner, seinen Mannschaftskameraden, seiner Organisation oder seinem Trainer niemals respektlos benimmt und dass man vor allem seinem Trikot immer den gebotenen Respekt erweist. Mach ein großes Spiel, zeig, was du kannst, erziel einen Big Hit, halt nach dem dritten Baseman Ausschau und mach dich bereit fürs Baserunning.«
    Sandberg zeigte auf die Spieler, die vor ihm in die Hall of Fame aufgenommen worden waren: »Diese Männer, die hier sitzen, haben nicht den Weg für uns übrige geebnet, damit die Spieler nun den Ball verschlagen und sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie sie einen Runner zur dritten Base jagen

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