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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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entwickelt haben, so haben verschiedene Kulturen auf der Grundlage einiger gemeinsamer Anliegen auch unterschiedliche Konzeptionen von Tugend und Laster entwickelt. 17
    Wissenschaftler sind sich über den genauen Aufbau dieser Module nicht einig. Haidt, Graham und Brian Nosek haben fünf moralische Anliegen definiert. Da ist zum einen der Aspekt der Fairness/Gegenseitigkeit, der Probleme der Gleich- und Ungleichbehandlung betrifft. Dann ist da der Aspekt der Verletzung/Fürsorge, der Dinge wie Empathie und Interesse für das Leiden anderer Menschen umfasst. Es gibt den Aspekt der Autorität/Achtung. Menschliche Gesellschaften zeichnen sich durch Hierarchien aus, und sie reagieren mit moralischer Empörung, wenn das, was sie schätzen (einschließlich sich selbst), nicht mit angemessenem Respekt behandelt wird. 18
    Des Weiteren gibt es den Aspekt der Reinheit beziehungsweise des Ekels. Das Ekel-Modul ist ursprünglich vielleicht entstanden, um uns von schädlichen oder unbekömmlichen Nahrungsmitteln fernzuhalten, aber in seiner weiteren Entwicklung nahm es eine moralische Dimension an: Es lässt uns vor Verunreinigungen aller Art zurückschrecken. Studenten an der University of Pennsylvania wurden gefragt, wie es sich für sie anfühlen würde, einen Pullover von Adolf Hitler zu tragen. 19 Sie waren sich sicher, es würde sich widerlich anfühlen, so, als wären Hitlers moralische Eigenschaften ein Virus, mit dem sie sich anstecken könnten.
    Am problematischsten ist schließlich der Aspekt der Eigengruppe/Loyalität. Die Menschen spalten sich in Gruppen auf. Sie empfinden eine tiefe Verbundenheit gegenüber den Mitgliedern ihrer eigenen Gruppe, ganz gleich, wie willkürlich das Kriterium der Zugehörigkeit definiert wird, und einen instinktiven Widerwillen gegen diejenigen, die ihren Loyalitätskodex verletzen. Menschen brauchen gerade einmal 170 Millisekunden, um zwischen Mitgliedern ihrer eigenen Gruppe und Mitgliedern einer anderen Gruppe zu unterscheiden. 20 Diese kategorischen Unterschiede lösen verschiedene Aktivierungsmuster im Gehirn aus. Der anteriore cinguläre Cortex im Gehirn von Weißen und Asiaten wird aktiviert, wenn sie sehen, dass Mitglieder ihrer Gruppe Schmerzen erleiden; die Aktivierung ist viel geringer, wenn sie sehen, dass Mitglieder einer anderen Gruppe Schmerzen haben. 21
    Die moralische Motivation
    Nach intuitionistischer Auffassung ist die unbewusste Seelensphäre eine Sporthalle voller Impulse, die um Vorherrschaft ringen. Es gibt sehr egoistische Impulse. Es gibt sehr soziale und moralische Impulse. Die sozialen Impulse konkurrieren mit den asozialen, und sehr oft geraten auch die sozialen Impulse untereinander in Streit. Mitgefühl und Mitleid setzen sich vielleicht auf Kosten von innerer Stärke, Entschlossenheit und Härte durch. Die Tugenden Tapferkeit und Heldenmut können mit den Tugenden der Demut und Duldsamkeit in Konflikt geraten. Kooperationsbereitschaft kann mit Konkurrenzfähigkeit aneinandergeraten. Unsere Tugenden aber fügen sich nicht nahtlos in ein komplementäres oder logisches System ein. Man kann eine Situation aus unterschiedlichsten Perspektiven betrachten und beurteilen, die letztendlich nicht miteinander vereinbar sind.
    Das bedeutet, dass es für die Widersprüche des menschlichen Lebens keine einzig wahre Lösung gibt. Auf dem Höhepunkt der Aufklärung versuchten Philosophen die Ethik auf logischen Regeln aufzubauen, die sich nahtlos ineinanderfügen sollten wie die Teile eines logischen Puzzles. Aber das ist aufgrund der widersprüchlichen Komplexität des menschlichen Daseins nicht möglich. Unser Gehirn ist an eine entzweite, nicht an eine harmonische und vervollkommnungsfähige Welt angepasst. Jeder von uns birgt eine Vielzahl moralischer »Selbste« in sich, die durch verschiedene Kontexte aktiviert werden. Wir sind viele.
    Aber wir haben einen starken Impuls, uns so moralisch wie möglich zu verhalten beziehungsweise uns zu rechtfertigen, wenn unsere sittliche Gesinnung in Zweifel gezogen wird. Menschen mit einer allumfassenden moralischen Gesinnung handeln keineswegs immer oder auch nur oft auf gute und tugendhafte Weise. Es geht mehr darum, was wir bewundern, als darum, was wir tun, mehr um unsere Urteile als um unsere Fähigkeit, ihnen zu entsprechen. Aber wir sind von einer großen Motivation erfüllt, eine moralische Person zu sein und als eine solche wahrgenommen zu werden.
    Moralische Entwicklung
    Die Rationalisten empfehlen uns zu

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