Das soziale Tier
überlebten in Familien und Gruppen.
Andere Tiere teilen diese soziale Disposition, und wenn wir sie erforschen, stellen wir fest, dass die Natur sie mit Fähigkeiten ausgestattet hat, die ihrem Bindungsverhalten förderlich sind. In einer Studie aus den 1950er Jahren wurden Ratten darauf abgerichtet, einen Hebel zu drücken, um Futter zu bekommen. 8 Dann stellten die Versuchsleiter die Vorrichtung so ein, dass das Betätigen des Hebels manchmal die Ausgabe von Futter auslöste, manchmal aber auch einer anderen Ratte im Käfig daneben einen Elektroschock verabreichte. Als die fressenden Ratten bemerkten, dass sie ihren Nachbarn Schmerzen zufügten, passten sie ihr Fressverhalten an. Sie hungerten sich zwar nicht zu Tode, aber sie fraßen weniger, um ihren Artgenossen übermäßige Schmerzen zu ersparen. Frans de Waal hat die komplexen Empathiebekundungen beschrieben, die sich im Verhalten von Primaten zeigen. Schimpansen trösten sich gegenseitig, kümmern sich um verletzte Mitglieder ihrer Gruppe und scheinen gern zu teilen. 9 Dies sind keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Primaten moralisches Bewusstsein besitzen, aber sie haben die psychologischen Bausteine dafür.
Auch Menschen besitzen eine Reihe von Emotionen, die ihrem Bindungs- und Hilfeverhalten förderlich sind. Wir erröten und schämen uns, wenn wir gegen soziale Normen verstoßen. Auf die geringste Kränkung reagieren wir mit Wut. Menschen gähnen, wenn sie andere gähnen sehen, und diejenigen, die schneller mitgähnen, sind auch besser bei komplexeren Formen der Einfühlung. 10
In einem Abschnitt seiner Theorie der ethischen Gefühle, in der die Theorie der Spiegelneuronen implizit vorweggenommen wird, schildert Adam Smith auf plastische Weise unsere natürliche Empathie gegenüber anderen: »Wenn wir zusehen, wie in diesem Augenblick jemand gegen das Bein oder den Arm eines anderen zum Schlage ausholt, und dieser Schlag eben auf den anderen niedersausen soll, dann zucken wir unwillkürlich zusammen und ziehen unser eigenes Bein oder unseren eigenen Arm zurück; und wenn der Schlag den anderen trifft, dann fühlen wir ihn in gewissem Maße selbst und er schmerzt uns ebenso wohl wie den Betroffenen.« 11 Außerdem, so Smith weiter, spürten wir den Wunsch, von unseren Mitmenschen wertgeschätzt zu werden. »Als die Natur den Menschen für die Gesellschaft bildete, da gab sie ihm zur Aussteuer ein ursprüngliches Verlangen mit, seinem Bruder zu gefallen, und eine ebenso ursprüngliche Abneigung, ihm wehe zu tun. Sie lehrte ihn Freude über deren freundliche Gesinnung, und Schmerz über ihr unfreundliche Gesinnung zu erleben.« 12
Bei Menschen haben diese sozialen Emotionen schon in einem sehr frühen Lebensalter eine moralische Komponente. Der Yale-Professor Paul Bloom führte ein Experiment durch, bei dem Babys eine Szene gezeigt wurde, in der eine Person mühsam einen Hügel erklimmt, eine weitere Figur, die der ersten zu helfen versucht, und eine dritte Figur, die sie zu behindern versucht. Schon im Alter von sechs Monaten ziehen die Babys den Helfer dem Behinderer vor. Bei einigen Versuchen gab es noch einen zweiten Akt. Die behindernde Figur wurde entweder bestraft oder belohnt. In diesem Fall bevorzugten acht Monate alte Säuglinge Figuren, die den Behinderer bestraften, gegenüber Figuren, die nett zu ihm waren. Diese Reaktion zeige, so Bloom, dass Menschen schon in einem sehr frühen Lebensalter ein rudimentäres Gerechtigkeitsgefühl besitzen. 13
Niemand muss einem Kind beibringen, eine faire Behandlung zu fordern; Kinder protestieren energisch gegen Ungerechtigkeiten, sobald sie kommunizieren können. Niemand muss uns beibringen, eine Person zu bewundern, die sich für eine Gruppe opfert; die Bewunderung für einen Menschen, der eine moralische Pflicht erfüllt, ist universell. Niemand muss uns lehren, jemanden zu verachten, der einen Freund, seine Familie oder seine Sippe verrät. Niemand muss einem Kind den Unterschied zwischen moralischen Regeln – »Du sollst niemanden schlagen« – und nicht-moralischen Regeln – »Du sollst in der Schule kein Kaugummi kauen« – erklären. Die Fähigkeit, hier zu unterscheiden, ist ebenfalls tief drinnen in uns angelegt. So, wie wir mit einer Reihe natürlicher Emotionen ausgestattet sind, die uns helfen, zu lieben und geliebt zu werden, so verfügen wir auch über eine Reihe natürlicher moralischer Gefühle, die uns dazu veranlassen, das Verhalten von Menschen zu missbilligen, die gegen
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