Das soziale Tier
Verhalten nicht erklären. »Was in Gottes Namen habe ich mir nur dabei gedacht?«
Überdies hatte der Fehltritt mit Mister Schöner Schein eine Art seelische Narbe zurückgelassen. Wenn sich in den folgenden Jahren ähnliche Situationen ergaben, musste Erica nicht ein einziges Mal über ihre Reaktion nachdenken. Es gab keine Verlockung, der sie hätte widerstehen können, weil schon der bloße Gedanke, abermals Ehebruch zu begehen, sofort ein Gefühl des Schmerzes und der Abscheu auslöste – so wie eine Katze den Herd meidet, an dem sie sich verbrannt hat. Sie fühlte sich durch das, was sie über sich selbst erfahren hatte, nicht tugendhafter, doch sie reagierte anders auf Situationen dieser Art.
Ericas Erfahrung veranschaulicht mehrere der Probleme, die mit der rationalistischen, alltagspsychologischen Theorie moralischer Willensbildung verbunden sind. Zunächst einmal sind die meisten unserer moralischen Urteile keine nüchternen, wohlüberlegten Entscheidungen, sondern instinktive und oftmals spontane Reaktionen. Im Alltag beurteilen wir Verhaltensweisen aus dem Bauch heraus, ohne lange darüber nachzudenken. Wir sehen ungerechtes Verhalten und sind aufgebracht. Wir sehen einen Akt der Nächstenliebe und sind gerührt.
Jonathan Haidt von der University of Virginia lieferte eine Vielzahl von Beispielen für solche spontanen, intuitiven moralischen Urteile. 1 Stellen Sie sich einen Mann vor, der im Supermarkt ein Hähnchen kauft, es auftaut, sich dadurch zum Orgasmus bringt, dass er es penetriert, und anschließend das Hähnchen brät und verspeist. Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihren toten Hund aufessen. Stellen Sie sich vor, Sie würden die Toilette mit einer Flagge in Ihren Nationalfarben putzen. Stellen Sie sich einen Bruder und eine Schwester vor, die zusammen einen Ausflug machen, an einem Abend geschützten Geschlechtsverkehr miteinander haben und dann – obwohl es ihnen Spaß macht – beschließen, es nicht wieder zu tun.
Wie Haidt in einer Reihe von Studien gezeigt hat, reagieren die meisten Menschen intuitiv sehr heftig (und negativ) auf diese Szenarien, obwohl dabei kein Mensch in irgendeiner Weise zu Schaden kommt. 2 Für gewöhnlich sind Haidts Versuchspersonen nicht in der Lage zu sagen, weshalb sie diese Handlungen abstoßend oder verstörend finden. Sie tun es einfach. Das Unbewusste hat entschieden.
Wenn die rationalistische Alltagspsychologie mit ihrer Betonung der bewussten moralischen Urteilsbildung zutreffend wäre, würde man erwarten, dass sich die Menschen, die sich den lieben langen Tag über moralische Fragen den Kopf zerbrechen, tatsächlich auch moralischer verhalten. Wissenschaftler haben auch diese Hypothese empirisch überprüft. Sie haben herausgefunden, dass zwischen moralischer Reflexion und edlem Verhalten nur eine vergleichsweise geringe Beziehung besteht. So schrieb Michael Gazzaniga in seinem Buch Human: »Zwischen moralischem Denken und proaktivem moralischem Verhalten, wie etwa anderen Menschen zu helfen, besteht kein nennenswerter Zusammenhang. Tatsächlich wurde in den meisten Studien überhaupt keiner gefunden.« 3
Wenn moralisches Denken zu vermehrtem moralischem Handeln führte, würde man erwarten, dass Menschen, die weniger emotional sind, zugleich moralischer sind. Doch in Extremfällen ist das Gegenteil der Fall. Jonah Lehrer hat darauf hingewiesen, dass die meisten Menschen, wenn sie einen anderen Menschen leiden sehen oder über einen Mord oder eine Vergewaltigung lesen, emotional sehr stark reagieren. Ihre Handteller schwitzen und ihr Blutdruck steigt steil an. Einige Menschen zeigen indes keine emotionale Reaktion. Diese Personen sind keine hyperrationalen Moralisten; sie sind Psychopathen. Psychopathen sind offenbar nicht in der Lage, das Leiden anderer Menschen nachzuempfinden. 4 Man kann ihnen fürchterliche Szenen von Tod und Leid zeigen, und sie bleiben ungerührt. Sie können anderen Menschen fürchterlichste Qualen zufügen, um das zu bekommen, was sie wollen, und empfinden dabei keinerlei Unbehagen oder Skrupel. Bei Studien an Männern, die ihre Frauen schlagen, hat man festgestellt, dass der Blutdruck und der Puls dieser Männer mit steigender Aggressivität sogar sinken. 5
Wenn moralisches Denken zu moralischem Verhalten führte, könnten diejenigen, die zu moralischer Urteilsbildung in der Lage sind, ihr Wissen auf der Basis dieser allgemeingültigen moralischen Gesetze in unterschiedlichsten Situationen anwenden. In der Wirklichkeit
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