Das soziale Tier
Tageslicht. Es war direkt. Lehrer gaben einem ein bestimmtes Stoffpensum auf, das man durcharbeitete.
Bei der emotionalen Bildung gab es keinen festgesetzten Lehrplan und keine vorgegebenen Kenntnisse, die es zu lernen galt. Erica schlenderte einfach umher auf der Suche nach Dingen, die ihr Spaß machten. Das Lernen war ein Nebenprodukt ihrer Suche nach freudvollen Aktivitäten. Das Wissen erreichte sie indirekt, es sickerte durch die Risse in den Fensterscheiben, den Dielen und durch die Luftlöcher ihres Geistes.
Erica las Romane wie Verstand und Gefühl, The Good Soldier oder Anna Karenina, und sie bemerkte, wie sie mit den Figuren mitfühlte, deren Gemütszustände nachahmte und neue emotionale Schattierungen entdeckte. Die Romane, Gedichte, Gemälde und Symphonien, die sie konsumierte, bezogen sich nie direkt auf ihr Leben. Niemand schrieb Gedichte über Vorstandsvorsitzende im Ruhestand. Entscheidend aber waren die Emotionen, die in diesen Kunstwerken dargestellt wurden.
In seinem Buch Culture Counts schreibt der Philosoph Roger Scruton: »Der Leser von Wordsworths ›Prelude‹ lernt, wie man die Natur mit seinen ureigenen Sehnsüchten beleben kann; der Betrachter von Rembrandts ›Nachtwache‹ erfährt etwas über den Stolz der Gilden und die milde Traurigkeit der bürgerlichen Lebensform; der Hörer von Mozarts Jupiter-Symphonie wird mit den offenen Schleusentoren menschlicher Freude und Schöpferkraft beschenkt; der Leser von Proust wird durch die Zauberwelt der Kindheit geführt und lernt, die unheimliche Prophezeiung unser späteren Leiden zu verstehen, die diese freudvollen Tage bereits in sich bergen.« 15
Selbst in ihrem Alter lernte Erica noch, auf neue Weise wahrzunehmen. So wie New York, China oder Afrika den Menschen, die dort leben, eine bestimmte Sicht auf die Welt vermitteln, so ist auch der Aufenthalt in der Welt eines Romanciers mit der Übernahme eines bestimmten, vorbewussten Standpunkts verbunden.
Erica entdeckte ihre ästhetischen Vorlieben durch praktisches Ausprobieren. Sie dachte, sie würde die Impressionisten lieben, aber jetzt ließen deren Werke sie seltsam kalt. Vielleicht waren ihr die Bilder einfach allzu vertraut. Hingerissen war sie dagegen von der Farbzusammenstellung der Florentinischen Renaissance und von Rembrandts schlichten, wissenden Gesichtern. Sie alle stimmten ihre Seele in unterschiedlicher Weise, dieses Instrument mit einer Million Saiten. Wenn sie vor einem Gemälde stand, eine neue Installation oder ein unbekanntes Gedicht entdeckte, erlebte sie Momente reiner Freude, in denen ihr Herz schneller schlug und sie Schmetterlinge im Bauch hatte. Einmal, ausgerechnet als sie Anthony Trollope las, konnte sie die Gefühle der Geschichte förmlich in ihrem eigenen Körper spüren, und sie war überaus empfänglich für die Empfindungen, die hervorgerufen wurden. »Ich habe keine harte Schale«, schrieb Walt Whitman über seinen Körper, und Erica begann zu verstehen, was er meinte. 16
Die tanzenden Scouts
Ericas Erfahrungen mit der Kunst sind ein Mikrokosmos all der verschiedenen Wahrnehmungsmodi, die wir in dieser Geschichte kennengelernt haben. Sehen und Hören sind tiefe, schöpferische Prozesse, nicht nur ein passives Aufnehmen.
Wenn man zum Beispiel ein Musikstück hört, breiten sich Schallwellen mit einer Geschwindigkeit von 343 Metern pro Sekunde durch die Luft aus und treffen auf unser Trommelfell, wobei sie eine Kette von Schwingungen erzeugen, die über die winzigen Gehörknöchelchen auf die Membran der Schnecke übertragen werden; dabei entstehen winzige elektrische Entladungen, die im ganzen Gehirn widerhallen. Vielleicht besitzt man keine musikalischen Fachkenntnisse, aber das ganze Leben hindurch – von dem Zeitpunkt an, da man im Rhythmus mit seiner Mutter gestillt wurde – hat man unbewusst Arbeitsmodelle über die Wirkungsmechanismen von Musik erstellt. Man hat gelernt, zeitliche Muster zu erkennen und vorwegzunehmen, was als Nächstes kommt.
Beim Hören von Musik nimmt unser Gehirn eine Reihe ausgeklügelter Berechnungen über die Zukunft vor. Wenn die letzten Töne das Muster Y hatten, werden die nächsten Töne vermutlich das Muster Z haben. So schreibt Jonah Lehrer in seinem Buch Prousts Madeleine: »Während es weitgehend von der menschlichen Natur abhängt, wie wir die Töne hören, sind es kulturelle Einflüsse, die uns die Musik hören lassen. Vom dreiminütigen Popsong bis zur fünfstündigen Wagner-Oper lehren uns die Werke unserer
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