Das soziale Tier
Erica ein paar Stunden gearbeitet hatte, fühlte sie sich leer und ausgepowert. Sie wurde unkonzentriert, ungeschickt und lustlos. Dann wieder wachte sie mitten in der Nacht auf, absolut sicher, was sie tun musste, um ein Problem zu lösen. Der Mathematiker Henri Poincaré löste eines der schwierigsten Probleme seines Lebens, als er in einen Bus einstieg. Die Antwort flog ihm einfach zu. »Ich setzte das Gespräch fort, das ich bereits angefangen hatte, aber ich empfand eine vollkommene Gewissheit«, schrieb er später. 28 Auch Erica hatte manchmal solche kleinen Offenbarungserlebnisse, während sie den Wagen parkte oder eine Tasse Tee zubereitete.
Wie alle Künstler und Kunsthandwerker war sie ein Spielzeug der Musen. Die Kreativität schien sich in einer verborgenen Welt jenseits ihrer Kontrolle abzuspielen. Die Dichterin Amy Lowell schrieb: »Mir fällt, scheinbar grundlos, eine Idee ein; ›Die bronzenen Pferde‹ zum Beispiel. Ich speicherte die Pferde als ein gutes Thema für ein Gedicht ab; und nachdem ich sie derart abgespeichert hatte, dachte ich nicht mehr bewusst über das Thema nach. Tatsächlich hatte ich meinen Stoff ins Unbewusste geworfen, so, wie man einen Brief in einen Briefkasten wirft. Sechs Monate später fielen mir nach und nach die Wörter des Gedichts ein, das Gedicht war ›da‹ – um mein persönliches Vokabular zu benutzen.« 29
Erica lernte kleine Tricks, die halfen, die Kreativität zu befeuern. Kunst ist eine Gefühlswallung, die man sich im Zustand der Gelassenheit ins Gedächtnis zurückruft, wie Wordsworth es einmal ausdrückte. Erica musste sich in einen Zustand versetzen, in dem ihre Emotionen an die Oberfläche perlten. Sie musste ein packendes Stück sehen, einen Berg erklimmen oder eine Tragödie lesen. Mit diesem prickelnden Gefühl im Herzen musste sie sich dann so weit entspannen, dass sie den in ihr aufwallenden Gefühlen Ausdruck verleihen konnte.
Mit zunehmendem Alter stellte sie fest, dass sie längere Phasen ununterbrochener Einsamkeit brauchte, damit sich ihr Bewusstsein langsam entspannte und sich den inneren Regungen hingab. Eine Unterbrechung konnte ihre innere Einstellung für einen ganzen Tag ruinieren.
Sie fand heraus, dass diese kreative Bewusstseinshaltung bei ihr am ehesten morgens oder am frühen Abend vorhanden war. Sie arbeitete mit aufgesetzten Kopfhörern, wobei sie sanfte klassische Musik hörte, um ihre Gedanken aufzulockern. Sie brauchte die Nähe von Fenstern mit Ausblick auf ferne Horizonte. Aus irgendeinem Grund arbeitete sie am besten im Esszimmer, das nach Süden raus lag, nicht in ihrem Atelier.
Sie lernte auch, dass man, wenn man etwas Neues ausprobiert, es am besten schnell und falsch macht und dann von vorn anfängt, um es wieder und wieder zu versuchen. Und in seltenen und kostbaren Momenten ahnte sie sogar, was Sportler und Künstler gemeint haben müssen, als sie davon sprachen, dass sie im Flow sind. Die erzählende Stimme in ihrem Kopf verstummte. Sie vergaß die Zeit. Das Werkzeug schien sie zu führen. Sie verschmolz mit ihrer Arbeit.
Was brachte ihr all das? Verbesserte es die Leistungsfähigkeit ihres Gehirns? Nun, einiges deutet darauf hin, dass bei Kindern, die in der Schule Kunstunterricht bekommen, der IQ leicht ansteigt. Ebenso, wie es Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Teilnahme an Musik- und Schauspielunterricht die soziale Kompetenz verbessert. Aber diese Ergebnisse sind nicht eindeutig, und es stimmt nicht, dass man allein dadurch intelligenter wird, dass man Mozart hört oder ins Museum geht.
Erhöhte Ericas Kreativität ihre Lebenserwartung? Ein bisschen. Eine Vielzahl empirischer Befunde deutet darauf hin, dass geistige Anregung die Langlebigkeit fördert. Menschen mit Universitätsabschlüssen leben länger als Menschen ohne, selbst wenn man andere Faktoren berücksichtigt. 30 (Nonnen mit Universitätsabschluss leben länger als ihre Glaubensschwestern ohne diesen Abschluss, obwohl sie im Erwachsenenalter den gleichen Lebensstil haben wie diese.) Menschen mit überdurchschnittlich großem Wortschatz in der Adoleszenz haben im Alter ein geringeres Demenz-Risiko. 31 Laut einer kalifornischen Studie müssen Senioren, die an Kunstkursen teilnehmen, seltener zum Arzt gehen, brauchen weniger Medikamente und stehen im Allgemeinen gesundheitlich besser da als ihre Altersgenossen. 32
Aber die eigentliche Belohnung ist spiritueller Natur. Es heißt, dass Menschen, die eine Psychotherapie machen, dies entweder tun, weil
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