Das soziale Tier
Anfang kann ich mich oftmals nicht richtig konzentrieren. Ich ertappe mich dabei, dass ich daran denke, was ich noch im Haushalt zu tun habe, oder mir die E-Mails einfallen, die ich beantworten muss. Dann wiederhole ich meine Formel. Nach einer Weile beginnt die Außenwelt dann meistens schemenartig zu verblassen. Ich muss die Formel nicht einmal mehr wiederholen. Ich kann es nicht beschreiben. Es ist, als würde ich mir des Bewusstseins bewusst.
Meine Identität, mein Ich-Bewusstsein schwindet, und ich werde der Empfindungen und Gefühle gewahr, die tief aus meinem Innern aufsteigen. Ziel ist es, sie einfach anzunehmen, ohne sie zu bewerten oder zu interpretieren. Man heißt sie einfach wie Freunde willkommen. Man begrüßt sie mit einem Lächeln. Einer meiner Lehrer sagt, es sei so, wie wenn man Wolken über ein Tal hinwegziehen sieht. 11 Diese Bewusstseinswolken wandern vorbei und werden von anderen Wolken und anderen mentalen Zuständen ersetzt. Es ist so, als hätte man Zugang zu Prozessen, die schon immer in uns abgelaufen sind, aber für gewöhnlich nicht wahrgenommen werden.
Ich kann das alles nicht richtig in Worte fassen, denn der springende Punkt ist ja gerade, dass diese Prozesse jenseits der Sprache ablaufen. Wenn ich versuche, diese Erfahrung zu beschreiben, wirkt sie so abgedroschen und abstrakt. Aber wenn ich mich in diesem Zustand befinde, gibt es keinen Erzähler, keinen Dolmetscher. Es gibt keine Wörter. Ich bin mir der Zeit kaum bewusst. Ich erzähle mir selbst keine Geschichte über mich – der Live-Kommentator ist verschwunden. Es ist ein Zustand des reinen Empfindens. Kannst du dir darunter etwas vorstellen?«
Offenbar hatte Missy einen Weg gefunden, um das Unbewusste direkt wahrzunehmen.
»Wenn ich diesen Zustand verlasse, bin ich eine andere. Ich sehe die Welt anders. Daniel Siegel sagt, es ist, wie wenn man nachts durch einen Wald spaziert und mit einer Taschenlampe den Weg beleuchtet. Plötzlich schaltet man die Taschenlampe aus. Man verliert das helle Lichtbündel, das eine schmale Stelle ausleuchtete. Aber nach und nach gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit, und mit einem Mal kann man das gesamte Umfeld überblicken. 12
Ich habe immer geglaubt, meine Gefühle wären identisch mit mir. Aber jetzt beobachte ich sie sozusagen dabei, wie sie in mir aufsteigen und durch mich hindurchziehen. Man erkennt, dass Dinge, die man als Teil seiner Persönlichkeit ansah, in Wirklichkeit nur Erfahrungen sind. Sie sind Empfindungen, die durch einen hindurchfließen. Man beginnt zu erkennen, dass unsere gewöhnliche Wahrnehmung nur einige wenige Blickwinkel von vielen möglichen benutzt. Es gibt andere Sichtweisen. Man entwickelt das, was die Buddhisten den ›Geist des Anfängers‹ nennen. Man sieht die Welt so, wie ein Säugling sie sieht, der sich aller Dinge gleichzeitig bewusst ist, ohne bewusste Auswahl und Interpretation.«
Missy erzählte all dies sehr lebhaft über ihren Salat hinweg. Ihre Beschreibung der Achtsamkeitsmeditation deutete darauf hin, dass es mit der richtigen Anleitung tatsächlich möglich ist, durch die Oberfläche des Bewusstseins in die verborgenen Tiefenschichten zu spähen. Das normale Bewusstsein sah vielleicht nur Farben in einem sehr schmalen Ausschnitt des elektromagnetischen Spektrums, aber vielleicht war es möglich, das Blickfeld zu erweitern und plötzlich auch den Rest der Welt zu sehen.
Tatsächlich haben Neurowissenschaftler – die für gewöhnlich ja sehr nüchterne Leute sind – großen Respekt vor diesen Meditationsübungen. Sie haben auf ihren Konferenzen mehrfach den Dalai Lama zu Gast gehabt, und einige von ihnen nehmen sogar die weite Reise zu Klöstern in Tibet auf sich, eben weil sich die wissenschaftlichen Befunde mit den Praktiken der Mönche teilweise decken.
Es ist mittlerweile erwiesen, dass die Visionen und transzendenten Erfahrungen, die religiöse Ekstatiker schon seit langem beschreiben, keine bloßen Hirngespinste sind. Sie sind keine chaotischen neuronalen Entladungen, die durch einen epileptischen Anfall verursacht werden. Vielmehr scheint das menschliche Gehirn für die Erfahrung des Heiligen und das Erleben erhebender Momente, die die normalen Grenzen der Wahrnehmung transzendieren, geradezu ausgelegt zu sein.
Andrew Newberg fand heraus, dass die Aktivität in den Scheitellappen – jener Hirnregion, die bei der Wahrnehmung unserer Körpergrenzen eine wichtige Rolle spielt – bei tibetanischen Mönchen oder katholischen
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