Das soziale Tier
Horizont. 23 Einige Kritiker haben festgestellt, dass Kenianer Bilder der Hudson River School Bildern ihrer eigenen, heimatlichen Landschaft vorziehen. Grund dafür sei, so die Kritiker, dass die Landschaft in der Nähe des Hudson River im Bundesstaat New York der afrikanischen Savanne im Pleistozän erheblich ähnlicher sehe als das gegenwärtige, viel trockenere Kenia.
Ganz allgemein mögen Menschen Fraktale, also Muster, die sich in verschiedenen Größenordnungen wiederholen. 24 Die Natur ist voller Fraktale: Gebirgszüge mit Gipfeln, die einander ähneln, die Blätter und Zweige an Bäumen, ein Espen-Wäldchen, Flüsse mit ihren Nebenflüssen. Menschen mögen solche Fraktale, die nicht allzu kompliziert sind. Wissenschaftler haben sogar eine Methode zur Messung der Fraktaldichte entwickelt. Michael Gazzaniga veranschaulicht diese Methode an einem Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie sollen einen Baum auf ein Blatt Papier zeichnen. Wenn das Blatt völlig leer bliebe, hätte es eine Fraktaldichte D von 1. Wenn Sie einen Baum mit so viele Ästen zeichnen würden, dass das Blatt vollkommen schwarz wäre, besäße es ein D von 2. Menschen bevorzugen normalerweise Muster mit einer Fraktaldichte von 1,3 – eine gewisse Komplexität, aber nicht zu viel. 25
Erica musste sich nicht den Kopf über Fraktale zerbrechen, wenn sie Gemälde von Vermeer, van Eyck oder Botticelli betrachtete. Und genau das ist der Punkt: Derartige Prozesse laufen unbewusst ab. Erica stand einfach da und genoss den Anblick.
Kreativität
Nach einiger Zeit beschloss Erica, selbst künstlerisch tätig zu werden. Sie versuchte es mit Fotografie und Wasserfarben, aber sie musste feststellen, dass sie nicht richtig bei der Sache und außerdem unbegabt war. Eines Tages fand sie ein hübsches Stück Holz, Sie bearbeitete es und machte ein kleines Schneidebrett daraus. Es befriedigte sie außerordentlich, das Brett jeden Tag zu benutzen, und im Verlauf der nächsten Jahre, solange ihre Hände die Arbeit ausführen konnten, fertigte sie einfache Haushaltsartikel aus Holz.
Morgens drehte sie ein paar Runden im Schwimmbecken, dann machte sie einen Spaziergang, und am Nachmittag ging sie in die kleine Werkstatt, die sie sich eingerichtet hatte. Gene Cohen, Gründungsdirektor des Center on Aging am National Institute of Mental Health, hat gesagt, die Dauer einer Aktivität sei wichtiger als die Aktivität selbst: »Mit anderen Worten, ein Buchklub, der sich über Monate oder Jahre regelmäßig trifft, trägt viel mehr zum Wohlbefinden einer Person bei als die gleiche Anzahl einmaliger Aktivitäten, wie Kinobesuche, Lesungen oder Ausflüge.« 26
Je länger sie sich mit der Schnitzerei beschäftigte, umso größer wurde das Repertoire an Kenntnissen und Fertigkeiten, das sie dabei erwarb. Sie musste das konkrete Stück Holz, das vor ihr lag, eingehend mustern, um zu erspüren, welcher Haushaltsartikel – Serviettenhalter, Büchergestell oder auch ein Stück eines Tischs – sich daraus fertigen ließe.
Anfangs stelle sie sich unbeholfen an, doch dann ging sie durch Geschäfte und auf Kunstgewerbemärkte, wo sie den Handwerkern bei der Arbeit zusah. Der ganze Kult um Ursprünglichkeit und Authentizität nervte sie an der kunstgewerblichen Bewegung, doch die Objekte selbst und die Art, wie sie zusammenpassten, gefielen ihr. Je mehr sie zusah und selbst arbeitete, umso besser wurde sie. Sie entwickelte ein feines Gespür, von dem sie sich in ihrem Umgang mit dem Gegenstand intuitiv leiten ließ. Mit Erstaunen stellte sie fest, dass sie einen eigenen Stil hatte. Sie wusste nicht, wie er entstanden war. Sie spielte einfach mit den Objekten herum, bis sie sich stimmig anfühlten.
Immer wieder nahm sich Erica zu viel vor. In ihrem hohen Alter unterschätzte sie noch immer, wie lange sie ein Projekt in Anspruch nehmen würde. Aber sie war auf eine angenehme Weise unzufrieden mit ihrer Arbeit. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf ein ideales Objekt, das sie gern erschaffen würde, und dann bastelte sie unablässig daran herum, wobei sich das Spannungsverhältnis zwischen der Wirklichkeit und dem Ideal, das sie im Geiste vor sich sah, nie völlig auflöste. Dennoch jagte sie ihm weiter nach. Sie ahnte, was Marcel Proust gefühlt haben mochte, als er auf dem Sterbebett neue Romanabschnitte diktierte. Er wollte eine Passage ändern, in der eine Figur starb, da er jetzt wusste, wie es sich wirklich anfühlte zu sterben. 27
Die Musen kamen und gingen. Nachdem
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