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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Nonnen in einer Phase tiefer Meditation oder beim Beten abnimmt. 13 Sie erleben ein Gefühl der Unendlichkeit. Weitere Forschungen haben gezeigt, dass bei Anhängern der Pfingstlerbewegung während des Zungenredens eine andere, wenngleich nicht weniger bemerkenswerte Veränderung der Hirnaktivität festzustellen ist. Pfingstler haben nicht das Gefühl, sich im Universum zu verlieren, die Aktivität in ihren Scheitellappen erlischt nicht. Bei ihnen kommt es aber zu einer Abschwächung der Gedächtnisfunktionen und einer Steigerung der emotionalen und sensorischen Aktivierung. So schreibt Newberg: »In der Tradition der Pfingstbewegung geht es darum, durch ein Erlebnis verwandelt zu werden. Statt alte Überzeugung zu festigen, öffnet der Einzelne seinen Geist, um neue Erfahrungen wirklicher zu erleben.« 14 Die verschiedenen religiösen Praktiken erzeugen unterschiedliche Gehirnzustände, die jeweils verschiedenen theologischen Anschauungen entsprechen.
    Hirn-Scans erlauben es nicht, die Frage zu beantworten, ob Gott existiert oder nicht, weil sie uns nicht sagen, wer diese Strukturen gestaltet hat. Sie lösen nicht das große Rätsel des Bewusstseins, also die Frage, wie Emotionen das materielle Gefüge des Gehirns umformen und wie die Materie im Gehirn Geist und Gefühle hervorbringt. Hirn-Scans zeigen allerdings, dass sich das Gehirn bei Menschen, die lange Zeit Meditation und Gebete praktizieren, neu vernetzt. Dadurch, dass man die Aufmerksamkeit nach innen richtet, kann man tief ins Unbewusste hineinschauen und zu einer Integration von bewussten und unbewussten Prozessen gelangen, die manche Leute Weisheit nennen.
    Missy blickte hin und wieder von ihrem Salat auf, nur um sicherzustellen, dass Erica sie nicht so ansah, als wäre sie übergeschnappt. Sie war weiterhin ein Mensch, der auf dem Boden der Tatsachen stand, aber sie ließ auch keinen Zweifel daran, wie viel ihr diese Erfahrungen bedeuteten. Sie entschuldigte sich immer wieder für die Unzulänglichkeiten ihrer Beschreibungen, ihre Unfähigkeit, richtig in Worte zu fassen, wie es sich anfühlte, Dinge ganzheitlich wahrzunehmen, statt sie nur verstandesmäßig zu erfassen, und das Gefühl eines erweiterten Bewusstseins zu haben. Sie nippte nicht an einem frisch gepressten Bio-Karottensaft, während sie über all dies sprach. Sie war nicht zu einer zweiten Yoko Ono geworden. Sie war eine Ärztin, die noch immer Teilzeit arbeitete, einen Benzin fressenden Geländewagen fuhr und zum Mittagessen Weißwein trank. Sie hatte lediglich einen auch wissenschaftlich überzeugenden Weg gefunden, um sich Zugang zu einer tieferen Ebene der Erkenntnis zu verschaffen.
    Gegen Ende des Essens fragte sie Erica, ob diese Lust habe, an ihrer nächsten Sitzung teilzunehmen, um die Achtsamkeitsmeditation selbst einmal auszuprobieren. »Nein danke, das ist nichts für mich«, hörte Erica sich sagen. Sie wusste nicht, weshalb sie diese Antwort gab. Die Vorstellung, in sich selbst hineinzuschauen, erfüllte sie mit einer tiefen Abneigung. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich nach außen orientiert und versucht, die Welt zu beobachten. Sie hatte ein aktives und bewegtes, kein beschaulich-ruhiges Leben geführt. In Wirklichkeit hatte sie Angst davor, nach innen zu sehen. Es war ein dunkler Teich, in den sie nicht hineinspringen wollte. Wenn sie sich lebendiger fühlen wollte, musste sie etwas anderes finden.
    Die zweite Ausbildung
    Im Laufe der nächsten Monate wurde Erica zu einer Art Kulturfanatikerin. Sie tauchte mit einem geradezu unersättlichen Appetit und dem für sie typischen Elan in die Welt der Künste ein. Sie las einige Bücher über die Geschichte der abendländischen Malerei. Sie kaufte sich ein paar Gedichtsammlungen und las sie im Bett, bis ihr die Augen zufielen. Sie kaufte einen CD -Kurs über klassische Musik und hörte ihn im Auto. Sie ging mit Freunden wieder in Museen.
    Das Leben hatte ihr, wie den meisten Menschen, eine bestimmte Art von Ausbildung mitgegeben. Sie war zur Schule gegangen. Sie hatte betriebswirtschaftliche Seminare besucht, verschiedene berufliche Tätigkeiten ausgeübt und die und die Fähigkeiten erworben. Sie hatte sich eine gewisse professionelle Fachkompetenz angeeignet.
    Jetzt nahm sie ihre zweite Ausbildung in Angriff. Diese war emotionaler Natur, eine Bildung der Gefühle. Sie funktionierte nicht so wie die erste. Bei der ersten kam das Wissen, das man sich aneignen sollte, durch die Eingangstür hinein und zeigte sich im hellen

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