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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Todes veränderte ihre Wahrnehmung der Zeit. Langsam formte sich eine neue Herausforderung in ihrem Geist. Der Ruhestand würde sie von den Kräften der Seichtigkeit befreien. Sie könnte ihren neuronale Speiseplan, also die Gesamtheit all dessen, was auf ihr Gehirn einwirkte, von nun an selbst zusammenstellen. Sie könnte sich tieferen Fragen widmen. Sie könnte sich für einen guten Zweck einsetzen.
    Da Erica nun einmal so war, wie sie war, musste sie für sich selbst einen Businessplan erstellen. Im letzten Kapitel ihres Lebens wollte sie intensiver leben. Sie nahm einen Notizblock hervor und listete die verschiedenen Sphären ihres Lebens auf: Reflexion, Kreativität, Gemeinschaft, Intimität und Ehrenamt. Für jede Kategorie schrieb sie dann eine Liste der Aktivitäten, der sie nachgehen könnte.
    Sie wollte gern eine kurze Autobiografie schreiben. Sie wollte eine neue Kunstgattung beherrschen, etwas Schwieriges tun und eine gewisse Kunstfertigkeit erreichen. Sie wollte einem Kreis von Freundinnen angehören, die sich jedes Jahr ein Mal treffen, um sich auszutauschen, zu lachen und zu trinken. Sie wollte gern einen Weg finden, um jüngeren Menschen etwas beizubringen. Sie wollte gern die Namen der Bäume lernen, damit sie auf einem Waldspaziergang wusste, was sie sah. Sie wollte gern in sich gehen und herausfinden, ob sie an Gott glaubte oder nicht.
    Achtsamkeit
    In den ersten Monaten nach ihrer Pensionierung hatte Erica das dringende Bedürfnis, wieder in Kontakt mit alten Freunden zu treten. Sie war mit niemandem von der Academy in Verbindung geblieben, und auch fast all ihre Freunde vom College waren weggefallen. Aber Facebook erlaubte es ihr, dem Abhilfe zu schaffen, und schon nach wenigen Wochen tauschte sie E-Mails mit Freunden aus, zu denen der Kontakt jahrzehntelang abgebrochen war.
    Es machte ihr unglaublich viel Freude, alle diese Freundschaften zu erneuern. Diese Kontakte weckten Teile ihrer Persönlichkeit, die lange geschlafen hatten. Sie fand heraus, dass eine ihrer ehemaligen Mitbewohnerinnen aus College-Zeiten, eine Frau aus den Südstaaten namens Missy, keine 25 Meilen von ihr entfernt wohnte, und so verabredeten sie sich eines Tages zum Essen. Erica und Missy hatten im ersten College-Jahr zusammengewohnt, und obwohl sie sich ein kleines Apartment geteilt hatten, hatten sie sich damals nicht näher angefreundet. Erica war wahnsinnig beschäftigt gewesen, und Missy, die im ersten Semester Medizin studierte, hatte ihre gesamte Zeit in der Bibliothek verbracht.
    Missy war noch immer klein und dünn. Ihr Haar war mittlerweile grau, aber ihre Haut noch immer glatt. Sie war Augenärztin geworden, hatte Familie und erholte sich von einer beidseitigen Brustentfernung. Sie war einige Jahre vor Erica in den Ruhestand getreten.
    Beim Essen erzählte Missy voller Überschwang von der Leidenschaft, die in den letzten Jahren ihr Leben verändert hatte: Achtsamkeitsmeditation. Erica überkam ein flaues Gefühl, sie erwartete, Geschichten von Yogis und spirituellen Klausuren in indischen Ashrams zu hören, wo Missy voller Glanz mit ihrem innersten Seelenkern in Verbindung trat – das übliche New-Age-Geschwätz eben. Missy war im College eine knallharte Naturwissenschaftlerin gewesen, aber jetzt im Alter war sie anscheinend sentimental geworden. Doch dann sprach Missy so über ihre Meditationen, wie sie früher über ihre Aufgaben für das College gesprochen hatte, mit der gleichen nüchternen Strenge.
    »Ich sitze im Schneidesitz kerzengerade auf dem Boden«, erklärte sie. »Zunächst konzentriere ich mich auf meine Atmung, wobei ich das Aus- und Einatmen im Geist vorwegnehme und dann spüre, wie mein Körper das ausführt, was ich vorweggenommen habe. Ich spüre, wie sich meine Nasenlöcher öffnen und schließen und sich meine Brust hebt und senkt. Dann konzentriere ich meine Gedanken auf ein Wort oder einen kurzen Satz. Ich wiederhole dieses Wort nicht immer wieder, ich halte es lediglich vor meinem geistigen Auge fest, und wenn ich bemerke, dass meine Gedanken abschweifen, bringe ich sie zurück. Manche wählen ein Wort wie ›Jesus‹ oder ›Gott‹ oder ›Buddha‹ oder ›Adonai‹, ich dagegen habe mich für ›Eintauchen ins Innere‹ entschieden.
    Dann warte ich ab, um zu sehen, welche Gefühle und Wahrnehmungen und Bilder in mein Gehirn strömen, und lasse dies geschehen, ohne einzugreifen. Es ist so, als würde man stillsitzen, während unterschiedlichste Gedanken im Bewusstsein auftauchen. Am

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