Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
Vom Netzwerk:
Wald durch den Schlitz in der Mauer eines Wehrturms. Während diese Sinneseindrücke auf ihn einströmten, konnte er sich in seiner Fantasie ganz in andere Zeitalter hineinversetzen.
    Sie reisten durch Caen, Reims und Chartres. Sie gingen nebeneinander her, und Harold flüsterte Erica Informationen aus den Büchern zu, die er gelesen hatte, wobei er dies ebenso zu seinem eigenen wie zu ihrem Vergnügen tat. »Das Leben war damals extremer«, sagte er einmal. »Es gab Extreme von sommerlicher Hitze und winterlicher Kälte, und es gab kaum Annehmlichkeiten, um diese Härten abzumildern. Es gab Extreme von Helligkeit und Dunkelheit, Gesundheit und Krankheit. Politische Grenzen waren willkürlich und änderten sich mit dem Tod eines Königs oder eines Lehnsherrn. Die politischen Herrschaftssysteme waren heterogen und basierten auf unterschiedlichen Mixturen aus gewohnheitsrechtlichen Überlieferungen, römischem Recht und Kirchenrecht. In einem Jahr herrschte Überfluss und im nächsten Jahr Hungersnot, und man konnte von einer Stadt, in der es genug zu essen gab, zu Fuß zu einer anderen Stadt wandern, in der die Menschen hungerten. Ein Drittel der Bevölkerung war unter 14 Jahre alt, und die Lebenserwartung lag bei 40 Jahren. Es gab also keine nennenswerte Zahl von Menschen in den Vierzigern, Fünfzigern oder Sechzigern, die mit ihrer Lebenserfahrung mäßigend auf soziale Spannungen hätten wirken können. Infolgedessen war ihr Leben in emotionaler Hinsicht intensiver als unseres. An Festtagen feierten sie Trinkgelage, die wir heute in dieser Form nicht mehr kennen. Daneben erlebten sie panische Schreckensmomente, wie wir sie nur aus unserer Kindheit in Erinnerung haben. In diesem Moment erlebten sie eine zarte Liebesgeschichte und jubelten im nächsten, wenn ein Bettler zerstückelt wurde. Sie scheinen Tränen, Leid und sogar Farben intensiver wahrgenommen zu haben. Für uns sind heutzutage ein paar regulierende Grundsätze ganz selbstverständlich, die sie jedoch noch nicht in ihrem mentalen Werkzeugkasten hatten. Sie kannten den Begriff der verminderten Schuldfähigkeit nicht, die Vorstellung, dass eine geisteskranke Person für ihre Taten womöglich nicht voll verantwortlich ist. Auch das Wissen, dass es gerichtliche Fehlurteile gibt, war ihnen fremd, ebenso der Gedanke, dass man Verbrecher resozialisieren sollte, anstatt sie einfach hinzurichten. Sie kannten nur Extreme – Schuld oder Unschuld, Erlösung oder Verdammung.«
    Harold und Erica spazierten gerade durch Chartres in Richtung Kathedrale, als er dies erzählte. Sie gingen über einen Platz mit Cafés, und Harold beschrieb, wie die Franzosen im 12. Jahrhundert in Schmutz und Dreck lebten und sich trotzdem nach einer idealen Welt sehnten. Sie entwickelten elaborierte Kodizes, die ritterliches Verhalten und höfische Liebe regelten. Er beschrieb die kunstvollen Regeln der Höflichkeit, die den Alltag bei Hof bestimmten; die Fülle der Rituale; die zahllosen Gesellschaften, die von Neulingen verlangten, einen Eid abzulegen, und die diverse Riten praktizierten; die prächtigen Umzüge, bei denen jeder Teilnehmer entsprechend seiner Stellung im Sozialgefüge einen ganz bestimmten Stoff, eine bestimmte Farbe und eine bestimmte Position in der Aufstellung zugewiesen bekam.
    »Es war fast so, als würden sie ein Schauspiel für sich selbst inszenieren, fast so, als würden sie ihr kurzes, elendes Leben in einen Traum verwandeln«, fuhr Harold fort. Er erklärte, dass Turniere eigentlich streng stilisierte Veranstaltungen hätten sein sollen, doch in Wirklichkeit oft chaotische Raufereien gewesen wären. Auch die höfische Liebe hätte ein höchst kunstvolles Ritual sein sollen, doch oftmals sei sie nichts als brutale Vergewaltigung gewesen. In der Fantasie wurde alles mythisch verklärt und idealisiert, während das wirkliche Leben von Dreck und Gestank geprägt war.
    »Sie hatten eine starke Sehnsucht nach Schönheit und glaubten fest an Gott und eine ideale Welt. Und irgendwie brachte dieser starke Glaube dies hervor«, sagte Harold, auf die Kathedrale von Chartres deutend. Er erzählte, dass Adlige und Bauern freiwillig ihre Arbeitskraft anboten, um dieses großartige Bauwerk zu errichten; dass ganze Dörfer in die Nähe der Domstädte zogen, um bei der Errichtung dieser großartigen Bauten zu helfen, die hoch über ihre armseligen Hütten aufragten.
    Er beschrieb die sich wiederholenden komplexen Maßwerkmuster, den gleichförmigen Rhythmus der Bögen, die

Weitere Kostenlose Bücher