Das soziale Tier
sie sich besser unter Kontrolle bekommen wollen (ihr Verhalten ist zu sprunghaft), oder weil sie ihre Kontrolle verringern wollen (sie sind zu gehemmt). Erica brauchte Enthemmung. Das Lesen von Gedichten, Museumsbesuche und die Schnitzerei schienen ihr dabei zu helfen.
Mit der Entspannung wuchs ihre Geduld; sie hatte jetzt etwas von einem umherwandernden Forschungsreisenden. Eine Reihe neuerer Studienergebnisse zusammenfassend, schreibt Malcolm Gladwell, dass Künstler, die in ihrer Jugend Erfolg haben, meist eher konzeptionell arbeiten. 33 Wie Picasso gehen sie von einer bestimmten Werkidee aus und versuchen, diese dann umzusetzen. Jene, die gegen Ende ihres Lebens eine Schaffensblüte erleben, arbeiten eher explorativ. Wie Cézanne gehen sie nicht von klaren Ideen aus, sondern durchlaufen einen Prozess von Versuch und Irrtum, der sie schließlich an ihr Ziel bringt.
Das ist nicht immer ein passiver, behutsamer Prozess. Im Jahr 1972 schrieb der renommierte Kunsthistoriker Kenneth Clark einen Essay über das, was er den »Altersstil« nannte. Er glaubte, in der Geschichte der bildenden Kunst und insbesondere bei Michelangelo, Tizian, Rembrandt, Donatello, Turner und Cézanne ein gemeinsames Muster entdecken zu können, das seines Erachtens viele bedeutende ältere Künstler kennzeichnet: »Ein Gefühl der Einsamkeit, eine Art heiligen Zorn, der sich zu einem metaphysischen Pessimismus steigerte; ein Misstrauen gegenüber der Vernunft, der Glaube an den Instinkt. […] Wenn wir Alterswerke von Künstlern aus einer engeren stilistischen Perspektive betrachten, finden wir eine Abwendung vom Realismus, eine Abneigung gegen etablierte Techniken und eine Sehnsucht nach vollkommen einheitlicher Behandlung, als wäre das Bild ein Organismus, wo jedes Glied die Lebendigkeit des Ganzen teilt.« 34
Natürlich besaß Erica weder die Genialität dieser Meister noch deren innere Unrast. Aber sie hatte den Wunsch, in ihren letzten Jahren noch einmal richtig durchzustarten und sich selbst zu überraschen. Sie hatte das Gefühl, dass die Kunst ihr Zugang zu tieferen Schichten in ihrem Inneren verschaffe. Künstler bergen die Empfindungen, die rudimentär in vielen Menschen vergraben sind, und bringen sie an die Oberfläche, sodass sie für alle sichtbar werden. Sie bringen die kollektive emotionale Weisheit der Menschheit zum Ausdruck. Sie halten mentale Zustände lebendig und geben sie von einer Generation an die nächste weiter. Roger Scruton formuliert es so: »Wir geben die Kultur daher aus dem gleichen Grund weiter, aus dem wir die Wissenschaft und Fertigkeiten weitergeben: nicht um dem Einzelnen zu nützen, sondern um unsere Gattung voranzubringen, indem wir eine Form des Wissens bewahren, die andernfalls von der Erde verschwinden würde.« 35
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Einige Jahre, nachdem sie in den Ruhestand getreten waren, verbrachten Harold und Erica den schönsten Urlaub ihres Lebens. Sie fuhren durch Frankreich und besichtigten Kathedralen. Harold bereitete sich einige Monate lang auf die Reise vor; er las Bücher über den Bau der Kathedralen und über mittelalterliche Geschichte, so wie er es auf der Uni getan hatte. Bestimmte Abschnitte der Bücher, die er las, speicherte er auf seinem Notebook, das er auf die Reise mitnahm. Er plante eine Route und erarbeitete eine Art Kulturreiseführer. Seine Ausarbeitung ähnelte den Präsentationen, die er früher während seines Berufslebens gemacht hatte, nur dass er dieses Mal über Architektur und Ritter sprach und dass sie, während er seinen Vortrag hielt, Städte und Kirchen besichtigten.
Harold verbrachte nicht viel Zeit damit, sich die Namen der Könige und die Abfolge der Schlachten einzuprägen. Er ging davon aus, dass jede Gruppe und jedes Zeitalter ein eigenes symbolisches System – Bauwerke, Organisationen, Lehren, Praktiken und Erzählungen – hervorbringt und dass die Menschen dann in den moralischen und intellektuellen Strukturen dieser Symbolwelten leben, ohne tiefer darüber nachzudenken. Daher versuchte Harold, wenn er über das mittelalterliche Leben sprach, zu erfassen, wie es sich angefühlt haben mochte, in diesem Zeitalter zu leben. Er wollte nicht den Fisch beschreiben, wie er es ausdrückte, sondern das Wasser, in dem die Fische schwammen.
Harold mochte solche Bildungsreisen. Er konnte die Vergangenheit mit allen Sinnen wahrnehmen – die Dunkelheit eines alten Gebäudes bei Tage, der Modergeruch eines Burgverlieses, der flüchtige Blick auf einen
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