Das soziale Tier
waren spirituelle Kraftzentren, Orte, an denen Himmel und Erde zusammentrafen. 37 Die Menschen damals, so kam es ihr vor, mussten einen unersättlichen Hunger nach Sagen gehabt haben. Sie verschmolzen, ohne Rücksicht auf die innere Logik, griechische, römische, christliche und heidnische Mythen miteinander und erweckten alles zum Leben. Selbst die Gebeine der Heiligen besaßen magische Kräfte. Es war, als wäre jeder materielle Gegenstand mit spiritueller Energie aufgeladen; und jedes künstlerische Artefakt war zugleich ein sakrales Objekt. Im Vergleich dazu sei unsere Welt völlig entzaubert, bemerkte Erica mit einem Seufzer.
Harold erwähnte, wie viel Spaß er habe. Aus irgendeinem Grund wurde Wissen für ihn nur lebendig, wenn er es jemandem beibrachte. Zum Schluss meinte er nachdenklich, er habe vielleicht seine Berufung zum Fremdenführer verpasst. Erica sah ihn mit funkelnden Augen an. »Wärst du gern einer?«
An diesem Abend heckten sie einen Plan aus. Harold wollte als Reiseleiter kleine Gruppen von Bildungsreisenden begleiten, vielleicht dreimal pro Jahr. Er würde sich ein paar Monate lang intensiv vorbereiten, so wie er es im Vorfeld der Reise nach Frankreich getan hatte, und dann würde er eine Gruppe durch Frankreich, die Türkei oder das Heilige Land führen. Sie würden einen Vertrag mit einem Reiseveranstalter abschließen, sodass sie sich keine allzu großen Gedanken über die Organisation der Reise machen müssten. Erica würde sich um den Rest kümmern. Es wäre ihre kleine Firma nach ihrer Verrentung. Erica war fest davon überzeugt, sie könnten es mit anderen Anbietern solcher Kulturreisen aufnehmen, weil ihre Reisegruppen intimer wären. Sie würden sich überwiegend auf Freunde stützen, sodass sich die Reisenden recht gut kennen würden, bevor sie sich anmeldeten.
Und genau damit verbrachten sie die nächsten acht Jahre. Sie gründeten ein Unternehmen namens »Sie Befinden Sich Hier-Touren«, das eine Art wanderndes Symposion über Kulturgeschichte war, mit hübschen Hotels und Wein. Ein paar Monate waren sie zu Hause, in denen sich Harold für die Vorbereitung der nächsten Reise in seine Bücher vergrub. Dann verreisten sie für zwei Wochen mit einer Gruppe und verbrachten einen All-inclusive-Bildungsurlaub in Griechenland oder einem anderen Land mit reichem kulturellen Erbe. Harold liebte es. Er mochte die Reisevorbereitungen sogar mehr als die Reisen selbst. Dreimal im Jahr erlebte Erica intensive Lernphasen. Auf diesen Reisen verging die Zeit langsamer. Ihr fielen tausend neue Dinge auf. Sie hatte das Gefühl, dass sich die Poren ihrer Haut öffneten.
Erica kam in ihrem Leben nie an den Punkt, wo sie voll und ganz entspannen konnte. Sie musste sich immer bewegen, irgendetwas tun und erreichen. Aber das hier waren sehr angenehme Strapazen. Für jemanden, der sein Leben damit verbracht hatte, sich durchzukämpfen und aufzusteigen, waren diese Reisen die reinste Freude.
Kapitel 22 Sinn
Wir wissen nicht genau, wann die Unsterblichen begannen, auf den Bergen aufzutauchen. Man wanderte in der Nähe von Aspen, Colorado, war dort mit dem Mountainbike unterwegs oder auf Langlaufskiern, und plötzlich hörte man hinter sich dieses Zischen, das klang wie ein F-18-Kampfflugzeug im Landeanflug. Dann drehte man sich um und erblickte diesen kleinen Klumpen Elastan. Es war einer dieser superfitten alten Kerle, die im Ruhestand beschlossen hatten, zu ihrem persönlichen Fitness-Dschihad aufzubrechen. Er war geschrumpft, als er die 70 überschritt, weshalb er nur 1,47 Meter groß war. Seine 45 Kilo feste Knorpel steckten in Sportkleidung aus Elastan. Er näherte sich einem in einem Affenzahn, trug Gewichte an Handgelenken und Fußknöcheln, und in seinem runzligen kleinen Gesicht stand ein Ausdruck wilder Entschlossenheit. Während man selbst am Berghang schnaufte, sauste dieser topfitte Senior im Elastan-Anzug wie eine kleine eiserne Rosine an einem vorbei.
Diesen alten Männern war alles gelungen, was sie je ausprobiert hatten, sodass sie beschlossen hatten, dem Tod ein großes »Fuck You!« zuzurufen. Früher waren sie überaus ehrgeizige junge Streberlinge gewesen, die schon mit sechs Jahren Zeitungen austrugen, mit 22 ihre erste Million machten und dann eine ganze Reihe von Schönheiten heirateten, sodass sie dieses merkwürdige genetische Phänomen zuwege brachten, dass ihre Großmütter wie Gertrude Stein aussahen, während ihre Enkeltöchter Uma Thurman glichen.
In ihrem Streben nach
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