Das soziale Tier
zahllosen steinernen Strukturelemente, die sich gegenseitig spiegelten. Sie verbrachten eine Stunde vor der Westfassade, wobei sie die in das Mittelportal gemeißelten Symbole der Dreifaltigkeit und die Tierkreiszeichen und die Monatsbilder um die Figur Christi auf dem Himmelfahrtsportal besonders eingehend betrachteten. So gut er konnte, erklärte Harold die regelrechte Flut von Symbolen und sinnträchtigen Figuren, die über den des geschriebenen Wortes unkundigen Pilger hereinbrach, Assoziationsketten in ihm auslöste und Ehrfurcht hervorrief.
Im Innern der Kathedrale beschrieb Harold die revolutionäre Pracht der Bauweise. Bis ins 12. Jahrhundert hinein hatte der Mensch sakrale Gebäude so konstruiert, dass sie wuchtig und imposant wirkten. Jetzt sollten diese Gebäude leicht und schwerelos wirken. Steine wurden dazu benutzt, ein Gefühl für das Spirituelle zu erzeugen. »Der Mensch möge sich über die Sinne zur Schau des Göttlichen erheben«, schrieb Abt Suger. 36
Harold liebte es, zu unterrichten. Den Fremdenführer zu spielen machte ihm mehr Spaß als alles, was er jemals zuvor getan hatte. Wenn er über diese oder jene historische Szene sprach, fand er sich manchmal selbst auf seltsame Weise ergriffen. Er gelangte zu der Erkenntnis, dass die Menschen in vergangenen Jahrhunderten dem Sakralen einen viel höheren Stellenwert eingeräumt hatten. Sie hatten mehr Zeit damit verbracht, sakrale Gebäude zu bauen und sakrale Riten zu praktizieren. Ihre Bauwerke waren Tore zu einer reineren Daseinsweise. Harold fühlte sich von diesen geschichtsträchtigen Orten und Portalen – Ruinen, Kathedralen, Schlössern und heiligen Stätten – stärker angezogen als von jedem modernen Ort und jeder lebenden Stadt. Insbesondere in Europa teilte er die Städte in lebendige wie Frankfurt und in tote wie Brügge und Venedig ein. Und die toten waren ihm die liebsten.
Nachdem Harold und Erica etwa eine Stunde im Innern der Kathedrale verbracht hatten, verließen sie das Gebäude, um irgendwo zu Abend zu essen. Dabei kamen sie an den Portalen der Westfassade vorbei, wo sie eine Reihe von Statuen sahen, die über den Eingangspforten angeordnet waren. Harold wusste nichts über sie. Es waren irgendwelche Kirchenälteste. Vielleicht auch Stifter oder Gelehrte oder Helden aus ferner Vergangenheit. Erica hielt unerwartet inne, um sie zu betrachten. Ihre Körper waren aus Stein gemeißelte langgestreckte Zylinder in eleganten, Falten werfenden Gewändern. Sie alle waren mit den gleichen Gesten dargestellt: eine Hand in die Hüfte gestemmt, und die andere, die etwas am Genick zu packen schien. Aber es waren die Gesichter, die Harolds Aufmerksamkeit fesselten.
Einige der Statuen, die sie auf ihrer Reise gesehen hatten, waren unpersönliche, schematische Figuren. Die Künstler hatten versucht, das Gesicht einer Person einem bestimmten ikonografischen Typus anzunähern, statt es naturalistisch darzustellen. Diese Skulpturen dagegen stellten reale, lebendig scheinende Menschen mit individuellen Zügen dar. Ihre Gesichter drückten auf markante Weise Selbstlosigkeit, Distanziertheit, Geduld und Schicksalsergebenheit aus. Sie waren das Produkt spezifischer persönlicher Erfahrungen, und in ihnen spiegelten sich einzigartige Hoffnungen und Ideale wider. Obwohl Harold nach einem langen Tag erschöpft war, überlief ihn bei der Betrachtung dieser Gesichter und Augen ein kalter Schauer. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn sahen; dass sie mit ihm mitfühlten, während sie ihn anstarrten und er sie anstarrte. Manche Historiker sprechen von Momenten historischer Ekstase, dem wundersamen Gefühl, das sie überkommt, wenn die Entfernung der Jahrhunderte verschwindet und sie die erstaunliche Empfindung haben, in direktem Kontakt mit der Vergangenheit zu stehen. Harold empfand jetzt etwas in der Art, Erica konnte sehen, wie seine Wangen glühten.
Es war ein wunderbarer Tag gewesen und ein erschöpfender obendrein. Bei Einbruch der Dunkelheit gingen sie in ein Restaurant und aßen lange und in aufgeräumter Stimmung. Es beeindruckte Erica, wie reich an Zauber die Welt für die Menschen im Mittelalter offensichtlich gewesen war. Für uns ist der Nachthimmel angefüllt mit weit entfernten brennenden Gaskugeln und riesigen leeren Räumen dazwischen. Für sie dagegen war er voller Geschöpfe und Magie. In den Steinen der Kirchen und den Bäumen der Wälder hausten Dämonen, Geister und Gottheiten. Die Kathedralen waren nicht bloß sakrale Bauten – sie
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