Das soziale Tier
oder einer anderen primären Bezugsperson einen sehr starken Einfluss darauf hat, wie das Kind sich selbst und die Welt sehen wird.
Vor Bowlbys Ära und selbst in den Jahren danach konzentrierten sich viele Wissenschaftler auf die bewussten Entscheidungen, die Menschen treffen. Dabei nahmen sie an, dass Menschen die Welt betrachten, die einfach ist, und anschließend Entscheidungen treffen, die kompliziert und mühsam sind. Bowlby konzentrierte sich auf die unbewussten Modelle, die wir in unseren Köpfen tragen und die bereits unsere Wahrnehmungen in einer ganz bestimmten Weise vorstrukturieren.
So kommt zum Beispiel ein Baby mit einer bestimmten Eigenschaft zur Welt, etwa einer hohen Reizbarkeit. Es hat jedoch das Glück, dass seine Mutter sich in seine Stimmungslagen einfühlen kann. Sie nimmt es in den Arm, wenn es umarmt werden will, und legt es ab, wenn es herunterwill. Sie beschäftigt sich mit ihm, wenn es Anregung möchte, und hält sich zurück, wenn es in Ruhe gelassen werden will. Das Baby lernt, dass es ein Geschöpf ist, das im Dialog mit anderen existiert. Es lernt, dass die Welt aus einer Vielzahl kohärenter Dialoge besteht. Es lernt, dass, wenn es Signale aussendet, diese höchstwahrscheinlich auch empfangen werden. Außerdem lernt es, dass es Hilfe bekommt, wenn es in Schwierigkeiten ist. Es entwickelt eine ganze Reihe von Annahmen darüber, wie die Welt funktioniert, und es stützt sich auf diese Annahmen, wenn es neue Erfahrungen macht und anderen Menschen begegnet (dabei werden diese Annahmen entweder bestätigt oder widerlegt).
Kinder, die in ein Netz stimmiger Beziehungen hineingeboren werden, wissen, wie sie Gespräche mit Unbekannten anknüpfen, und können zwischenmenschliche Signale deuten. Sie betrachten die Welt als einen Ort, der ihnen wohlgesinnt ist. Kinder, die in ein Netz angsteinflößender Beziehungen hineingeboren werden, können furchtsam, in sich gekehrt oder übermäßig aggressiv sein. Sie nehmen oft Bedrohungen wahr, wo gar keine sind. Manche von ihnen sind nicht in der Lage, zwischenmenschliche Signale angemessen zu interpretieren, oder haben nicht das Gefühl, dass sie es wert seien, dass man ihnen zuhört. Dieser Akt der unbewussten Konstruktion von Wirklichkeit bestimmt, was wir wahrnehmen und worauf wir achten. Und er prägt auch unser Verhalten nachhaltig.
Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, Eltern-Kind-Beziehungen zu beschreiben. Bowlbys Schülerin Mary Ainsworth ging davon aus, dass der Moment, wo das Kind von seiner Bezugsperson getrennt wird und dazu gezwungen ist, seine Umwelt auf eigene Faust zu erkunden, und sei es nur für ein paar Minuten, ein ganz entscheidender Zeitpunkt ist. Ainsworth entwickelte den Strange Situation Test, um die Übergangsmomente zwischen Sicherheit und Erkundung genauer zu untersuchen. In einer typischen Testsituation wird eine Mutter mit ihrem Kind (für gewöhnlich zwischen neun und 18 Monate alt) in ein Zimmer mit Spielsachen gebracht, die das Erkundungsverhalten anregen. Anschließend betritt eine fremde Person das Zimmer. Die Mutter lässt daraufhin das Kind mit der fremden Person allein. Dann kommt die Mutter zurück. Nun verlassen die Mutter und die fremde Person das Zimmer. Dann kommt die fremde Person zurück. Ainsworth und ihre Mitarbeiter beobachteten bei jedem dieser Übergänge das Kind ganz genau. Wie stark protestierte es, wenn die Mutter hinausging? Wie reagierte es, wenn die Mutter zurückkam? Wie reagierte es auf die fremde Person?
In den folgenden Jahrzehnten wurden Tausende und Abertausende von Kindern auf der ganzen Welt mit dem Strange Situation Test untersucht. 4 Etwa zwei Drittel der Kinder weinen ein bisschen, wenn ihre Mutter sie bei diesem Test zurücklässt, und eilen ihr entgegen, wenn sie in den Raum zurückkehrt. Von diesen Kindern heißt es, sie seien sicher gebunden. Etwa ein Fünftel der Kinder zeigt äußerlich keinerlei Regung, wenn ihre Mutter fortgeht, und sie laufen ihr bei der Wiederkehr auch nicht entgegen. Diese Kinder haben eine unsicher-vermeidende Bindung, wie man sagt. Die letzte Gruppe zeigte keine einheitliche Reaktion. Bei der Rückkehr der Mutter laufen sie ihr entweder entgegen, oder sie schlagen wütend auf sie ein, wenn sie ihnen zu nahe kommt. Diese Kinder haben der Theorie nach ein unsicher-ambivalentes oder ein desorganisiertes Bindungsverhalten.
Diese Kategorien haben die gleichen Schwächen wie alle Versuche, menschliches Verhalten in Schubladen zu stecken. Dennoch
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