Das soziale Tier
Welt funktioniert.
In zahlreichen Studien ging man der Frage nach, wie sich die frühkindlichen Bindungsstile auf das Bindungsverhalten im Erwachsenenalter auswirken. So hat man beispielsweise herausgefunden, dass es in Deutschland mehr Kleinkinder vom unsicher-vermeidenden Bindungstyp gibt als in den Vereinigten Staaten, während es in Japan mehr unsicher-ambivalent gebundene Kinder gibt. 21 Eine der eindrucksvollsten Längsschnittstudien wurde in Minnesota durchgeführt, ihre Ergebnisse sind in dem Buch The Development of the Person von Sroufe, Egeland, Carlson und Collins zusammengefasst.
Sroufe und sein Team haben 180 Kinder und ihre Familien über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren beobachtet. Die ersten psychologischen Tests führten sie drei Monate vor der Geburt der Kinder durch (um die Persönlichkeitstypen der Eltern zu ermitteln). Von diesem Zeitpunkt an haben sie die Studienteilnehmer und deren Lebensumstände immer wieder auf vielfältigste Weise psychologisch getestet und untersucht und dabei mehrere geschulte Fachkräfte gleichzeitig eingesetzt.
Die Ergebnisse dieser Studie widersprechen dem gesunden Menschenverstand keineswegs, sondern sie bestätigen ihn auf eindrucksvolle Weise. Der erste bemerkenswerte Befund ist die Tatsache, dass in den bildlichen Auswertungen der Ergebnisse die meisten der kausalen Richtungspfeile von den Eltern zum Kind zeigen. Es ist offensichtlich so, dass es Eltern schwerer fällt, zuverlässige emotionale Bindungen zu leicht erregbaren Kindern und Kindern, die an Koliken leiden, aufzubauen als zu ruhigen und heiteren Kindern. Dennoch ist der Schlüsselfaktor das elterliche Einfühlungsvermögen. Kinder von Eltern mit einer kommunikativen, interaktionsfreudigen Persönlichkeit sind im Allgemeinen sicher gebunden. Eltern, die sich an zuverlässige Beziehungen zu ihren eigenen Eltern erinnern, haben in der Regel ebenfalls sicher gebundene Kinder. Einfühlsame Eltern können sichere Bindungen zu schwierigen Kindern entwickeln und genetische Benachteiligungen überwinden.
Eine weitere bemerkenswerte Erkenntnis ist die Tatsache, dass der Bindungstyp im Verlauf des Lebens weitgehend konstant bleibt. Kinder, die in einem bestimmten Alter als sicher gebunden eingestuft wurden, wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem anderen Lebensalter genauso eingestuft, sofern kein schwer traumatisierendes Ereignis eintrat, etwa der Tod eines Elternteils oder Missbrauch im Elternhaus. »Im Allgemeinen hat unsere Studie zweifelsfrei bestätigt, dass die frühkindlichen Erfahrungen von Menschen ihr späteres Bindungsverhalten recht zuverlässig vorhersagen«, schreiben die Autoren. 22 Einfühlsame elterliche Fürsorge lässt auf eine gute Bindungsfähigkeit des Kindes in jedem späteren Lebensalter schließen.
Drittens gibt es eine hohe Korrelation zwischen dem Bindungstyp und der schulischen Leistung. Einige Forscher sind der Ansicht, dass sich aus dem gemessenen IQ eines Kindes dessen spätere akademische Leistungsfähigkeit zuverlässig vorhersagen lässt. Die Sroufe-Studie legt jedoch die Vermutung nahe, dass soziale und emotionale Faktoren ebenfalls eine äußerst wichtige Rolle spielen. Einschätzungen der Bindungssicherheit und der Einfühlsamkeit der Bezugsperson korrelierten mit Lesekompetenz- und Mathematiknoten während der gesamten Schulzeit. 23 Kinder mit unsicher-vermeidendem Bindungsverhalten zeigten sehr viel häufiger Verhaltensauffälligkeiten in der Schule. Sechs Monate alte Säuglinge mit dominierenden, übergriffigen und unberechenbaren Bezugspersonen waren im Schulalter viel häufiger unaufmerksam und hyperaktiv. 24
Anhand der Qualität der elterlichen Fürsorge konnten die Forscher um Sroufe bei einem dreieinhalbjährigen Kind mit einer Treffsicherheit von 77 Prozent vorhersagen, ob es die Highschool abbrechen würde. 25 Die Hinzunahme von Untersuchungsergebnissen, die den IQ und das Sprachverständnis des Kindes betrafen, verbesserte die Genauigkeit der Vorhersage nicht. Kinder, die nicht vorzeitig von der Schule abgingen, besaßen im Allgemeinen die Fähigkeit, Beziehungen zu Lehrern und Gleichaltrigen aufzubauen. Im Alter von 19 Jahren gaben sie an, mindestens einen Lieblingslehrer zu haben, der »auf ihrer Seite« sei. Die Schulabbrecher dagegen waren nicht in der Lage, Beziehungen zu Erwachsenen aufzubauen. Die meisten berichteten, sie hätten keinen Lieblingslehrer, und »viele von ihnen starrten den Interviewer an, als hätte er eine unfassbare Frage
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