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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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gleich nach seiner Geburt in Ketten gelegt.
    Aber als Julia ihren Sohn betrachtete, hatte sie nicht das Gefühl, dass der unbeaufsichtigte Harold, der sich gegen die Hausaufgaben sträubende Harold, der unbeherrschte Harold wirklich frei war. Dieser Harold, den manche Philosophen zum Inbegriff beglückender Unschuld verklären, war in Wirklichkeit ein Gefangener seiner Impulse. Freiheit ohne Struktur ist letztlich Sklaverei.
    Harold wollte seine Hausaufgaben machen. Er wollte ein guter Schüler sein und seinen Lehrern, seiner Mutter und seinem Vater Freude bereiten. Aber er war dazu schlechterdings nicht in der Lage. Aus irgendeinem Grund konnte er nichts daran ändern, dass in seinem Rucksack ein heilloses Durcheinander herrschte und sein Leben auch ansonsten recht chaotisch war. Saß er am Tisch, konnte er seine Aufmerksamkeit nicht fokussieren. Irgendetwas geschah bei der Spüle, und er musste einfach nachsehen, was da los war. Irgendein beiläufiger Gedanke trieb ihn zum Kühlschrank oder zu einem Umschlag, der zufälligerweise neben der Kaffeemaschine lag.
    Weit davon entfernt, frei zu sein, war Harold jetzt ein Opfer der Überreste seines Laternen-Bewusstseins, sofort abgelenkt durch die kleinste äußere Störung und unfähig, seine Reaktionen zu steuern. Er war intelligent genug, um zu spüren, dass er sich nicht mehr in der Gewalt hatte. Er konnte das Chaos, das innerlich in ihm ausbrach, nicht in Schach halten. Das frustrierte ihn, und er fühlte sich schlecht.
    Um ehrlich zu sein, verschlimmerte Julia diese Momente an manchen Abenden noch, indem sie die Geduld verlor. In diesen Augenblicken der Erschöpfung und Frustration forderte sie Harold auf, sich dahinterzuklemmen und die Sache endlich zu Ende zu bringen. Weshalb kam er denn mit diesen einfachen Aufgaben nicht zurande? Sie hätten ihm doch leichtfallen müssen.
    Damit hatte sie nie den gewünschten Erfolg.
    Aber Julia kannte noch andere Mittel und Wege. In ihrer eigenen Kindheit waren ihre Eltern oft umgezogen. Sie wechselte jedes Mal die Schule, und manchmal war es ihr schwergefallen, neue Freunde zu finden. In diesen Zeiten fixierte sie sich ganz auf ihre Mutter und war fast ausschließlich mit ihr zusammen. Sie unternahmen lange Spaziergänge, gingen gemeinsam ins Café, und ihre Mutter, die in der neuen Nachbarschaft ebenfalls allein war und niemanden zum Reden hatte, öffnete sich. Sie erzählte der kleinen Julia, dass sie sich in der neuen Umgebung unsicher fühle, was ihr hier gefalle und was nicht, was sie vermisse und worauf sie sich freue. Julia empfand es als eine Auszeichnung, dass sich ihre Mutter ihr in dieser Weise anvertraute. Damals war sie ja selbst noch ein kleines Mädchen, aber so erhielt sie Zugang zu der Sichtweise eines Erwachsenen. Sie spürte, dass sie in eine besondere Sphäre zugelassen wurde.
    Die erwachsene Julia führte ein ganz anderes Leben, als es ihre Mutter getan hatte. In vielerlei Hinsicht war es wesentlich leichter. Sie verbrachte wahnsinnig viel Zeit mit Oberflächlichkeiten – damit, die richtigen Handtücher fürs Gästezimmer auszusuchen und den neusten Klatsch über Stars und Sternchen zu verfolgen. Daneben aber hatte sie noch immer einige der inneren Arbeitsmodelle von damals im Kopf. Ohne auch nur zu bemerken, dass sie das Verhalten ihrer Mutter wiederholte, teilte Julia ihrerseits manchmal ihre Gedanken und Erlebnisse mit Harold. Wenn sie beide gereizt oder bedrückt waren, erzählte sie ihm, ohne großartig darüber nachzudenken, von irgendeinem Abenteuer aus ihrer Jugend. So gewährte sie ihm sehr persönliche Einblicke in ihr Leben.
    An diesem Abend hatte Julia den Eindruck, Harold fühle sich besonders einsam in seinem Ringen mit äußeren Reizen und unkontrollierbaren inneren Regungen. Instinktiv zog sie ihn zu sich heran und ließ ihn an ihren eigenen Erinnerungen teilhaben.
    Sie erzählte ihm die Geschichte, wie sie nach ihrem College-Abschluss mit einigen Freunden eine Fahrt quer durch die USA unternommen hatte. Sie schilderte den Verlauf der Fahrt, die Orte, an denen sie übernachtet hatten, wie die Appalachen ins Flachland übergingen und dann die Rocky Mountains auftauchten. Sie beschrieb, wie es war, morgens aufzuwachen, in der Ferne Berge zu sehen und dann stundenlang zu fahren und sie noch immer nicht zu erreichen. Sie beschrieb die Reihe von Cadillacs, die sie senkrecht aufgepflanzt entlang dem Highway gesehen hatte.
    Solange sie erzählte, hing Harold andächtig an ihren Lippen. Sie

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