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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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behandelte ihn mit Respekt und gewährte ihm Zutritt zu diesem höchst geheimnisvollen Bereich – der verborgenen Sphäre des Lebens seiner Mutter vor seiner Geburt. Sein Zeithorizont erweiterte sich fast unmerklich. Er bekam eine Ahnung von den Mädchenjahren seiner Mutter, ihrer Schwangerschaft, seiner Geburt, seiner Entwicklung, der Gegenwart und den Abenteuern, die er eines Tages erleben würde.
    Und während Julia redete, räumte sie auf. Sie schaffte Platz auf der Arbeitsfläche und packte die Schachteln und herumliegenden Briefe weg, die sich tagsüber angehäuft hatten. Harold neigte sich zu ihr hin, als würde sie ihm nach einem schweißtreibenden Spaziergang Wasser anbieten. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, sie als ein Instrument zu nutzen, um sich innerlich zu organisieren, und während ihres kleinen Plauschs begann er genau damit.
    Julia blickte zu Harold hinüber und bemerkte, dass ihm der Bleistift aus dem Mund hing. Er kaute nicht darauf, sondern hielt ihn nur sanft zwischen den Zähnen, so wie er es automatisch tat, wenn er über etwas nachdachte. Plötzlich sah er zufriedener und gesammelter aus. Mit ihrer Geschichte hatte Julia etwas ausgelöst; sie hatte eine implizite Erinnerung daran wachgerufen, wie es war, ausgeglichen und beherrscht zu sein. Sie hatte ihn in jene Art von ausführlichem Gespräch hineingezogen, das er noch immer nicht aus eigener Kraft führen konnte. Es schien wie ein Wunder, aber schon bald machte Harold mühelos seine Hausaufgaben.
    Doch natürlich war es kein Wunder. Wenn es eine Erkenntnis gibt, die Entwicklungspsychologen im Lauf der Jahre gewonnen haben, dann die, dass Eltern keine brillanten Psychologen und keine hochbegabten Lehrer sein müssen, um ihre Kinder gut zu erziehen. Das meiste, was Eltern mit Illustrationstafeln, besonderen Übungen und Lernprogrammen tun, um ihre Kinder zu vollkommenen Leistungsrobotern zu machen, bleibt völlig wirkungslos. Stattdessen müssen sie nur »gut genug« sein. Sie müssen ihren Kindern stabile und vorhersagbare Routinen und Verhaltensmuster bieten. Sie müssen in der Lage sein, die Bedürfnisse ihrer Kinder wahrzunehmen und darauf einzugehen, und sie müssen dabei emotionale Zuwendung mit Disziplin verknüpfen. Sie müssen sichere emotionale Bindungen aufbauen, auf die Kinder in Stresssituationen zurückgreifen können. Sie müssen lebende Beispiele dafür sein, wie man mit den Problemen der Welt zurechtkommt, damit ihre Kinder unbewusste mentale Modelle dafür entwickeln können.
    Sicher gebunden
    Sozialwissenschaftler tun ihr Bestes, um die menschliche Entwicklung wenigstens einigermaßen zu verstehen. Im Jahr 1944 führte der britische Psychologe John Bowlby eine Studie mit einer Gruppe junger Delinquenten durch, die unter dem Titel Forty-Four Juvenile Thieves veröffentlicht wurde. Er stellte fest, dass ein hoher Prozentsatz dieser Jungen im frühen Kindesalter von ihren Eltern verlassen worden war und dass sie daher unter Gefühlen der Wut, der Erniedrigung und der Wertlosigkeit litten. »Sie sind fortgegangen, weil ich kein guter Junge bin«, erklärten sie. 2
    Bowlby fiel auf, dass die Jungen keine emotionalen Bindungen aufbauten und andere Strategien entwickelten, um das Gefühl des Verlassenseins, unter dem sie litten, zu bewältigen. Er stellte die Hypothese auf, Kinder bräuchten vor allem sichere Bindungen und die Möglichkeit, ihre Umgebung zu erkunden. Sie müssen das Gefühl haben, dass ihre Bezugspersonen sie lieben, aber sie müssen auch in die Welt hinausgehen und auf sich selbst aufpassen können. Bowlby behauptete nun, diese beiden Bedürfnisse gerieten zwar manchmal in Widerstreit zueinander, seien aber auch miteinander verknüpft. Je geborgener sich ein Kind zu Hause fühle, umso eher sei es bereit, sich kühn in die Welt hinauszuwagen, um Neues zu erkunden. Bowlby selbst hat es einmal folgendermaßen formuliert: »Wir alle sind, von der Wiege bis zur Bahre, dann am zufriedensten, wenn das Leben als eine Reihe langer oder kurzer Streifzüge von der sicheren Basis aus, die unsere Bezugspersonen bereitstellen, strukturiert ist.« 3
    Bowlbys Arbeiten trugen dazu bei, dass die frühkindliche Entwicklung und die menschliche Natur überhaupt in einem anderen Licht gesehen wurden. Vor Bowlby neigten die Psychologen dazu, individuelles Verhalten zu untersuchen und den sozialen Beziehungen wenig Beachtung zu schenken. Bowlbys Arbeiten hingegen betonten, dass die Beziehung zwischen einem Kind und einer Mutter

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