Das soziale Tier
setzen ihr Spiel und ihr Erkundungsverhalten fort.
Wenn diese Kinder älter werden, wirken sie auf den ersten Blick erstaunlich unabhängig und reif. In den ersten Schulwochen haben ihre Lehrer einen positiven Eindruck von ihnen. Allmählich aber zeigt sich, dass sie keine engen Beziehungen zu Freunden und Erwachsenen aufbauen. Sie leiden an chronischer Ängstlichkeit und sind in sozialen Situationen unsicher. In dem Buch The Development of the Person von L. Alan Sroufe, Byron Egeland, Elizabeth A. Carlson und W. Andrew Collins beschreiben die Autoren, wie ein unsicher-vermeidend gebundener Junge ein Klassenzimmer betritt: »Er bewegte sich zickzackförmig, wie ein Segelschiff, das gegen den Wind kreuzt. Schließlich gelangte er in die Nähe der Lehrerin; dann wandte er ihr den Rücken zu und wartete darauf, dass sie Kontakt zu ihm aufnahm.« 9
Erwachsene mit unsicher-vermeidendem Bindungsverhalten haben oftmals nur wenige Erinnerungen an ihre Kindheit. 10 Sie beschreiben sie mit allgemeinen Floskeln, da es nur wenig gibt, das sie emotional so stark angesprochen hätte, dass sie sich daran erinnern könnten. Oft fällt es ihnen schwer, enge persönliche Beziehungen aufzubauen. Bei sachlichen Diskussionen machen sie vielleicht eine gute Figur, aber sie reagieren mit tiefem Unbehagen, wenn das Gespräch auf Gefühle kommt oder wenn sie aufgefordert werden, Dinge von sich selbst preiszugeben. Ihr Spektrum emotionalen Erlebens ist schmal, und sie fühlen sich am wohlsten, wenn sie allein sind. Laut einer Studie von Pascal Vrticka von der Universität Genf zeigen Erwachsene mit unsicher-vermeidendem Bindungsverhalten bei sozialen Interaktionen eine geringere Aktivierung in den Belohnungszentren des Gehirns. 11 Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Alter von siebzig Jahren allein leben, ist dreimal höher als beim Durchschnitt der Bevölkerung. 12
Kinder vom ambivalenten oder desorganisierten Bindungstyp haben oftmals Eltern, die emotional unbeständig und unzuverlässig sind. 13 In der einen Minute sind sie ansprechbar, in der nächsten unzugänglich. In einer Stunde sind sie übermäßig zudringlich, in der nächsten abweisend und kühl. Solchen Kindern fällt es schwer, konsistente Arbeitsmodelle zu entwickeln. Sie spüren einerseits den Drang, zu Mami und Papi hinzulaufen, und gleichzeitig haben sie den Impuls, wegzulaufen. 14 Wenn man sie an den Rand einer Böschung stellt, die ihnen Angst macht, nehmen sie bereits im Alter von zwölf Monaten keinen Blickkontakt zu ihren Müttern auf, um Hilfe bei ihnen zu suchen, wie es sicher gebundene Babys tun. Sie schauen weg von ihren Müttern. 15
Im weiteren Verlauf ihres Lebens sind diese Kinder ängstlicher als andere Kinder. 16 Sie fühlen sich viel eher bedroht, und es fällt ihnen schwer, ihre Impulse zu kontrollieren. Solche Stressfaktoren können langfristige Folgen haben. Mädchen, die vaterlos aufwachsen, bekommen unter ansonsten gleichen Bedingungen früher ihre Regel, und sie haben in der Adoleszenz tendenziell mehr Sexualpartner. 17 Kinder mit desorganisiertem Bindungsverhalten leiden im Alter von 17 Jahren häufiger unter psychischen Störungen. 18 Kinder, deren familiärer Hintergrund durch ein desorganisiertes Bindungsverhalten geprägt ist, haben ein kleineres Gehirn mit geringerer Synapsendichte, weil die traumatischen Erlebnisse in ihrer Kindheit die Reifung der Synapsen verzögerten. 19
Um es noch einmal zu sagen: All dies bedeutet nicht, dass das frühkindliche Bindungsmuster den weiteren Lebensverlauf schicksalhaft festlegt; aus dem frühen Bindungsstil lässt sich das Bindungsverhalten des Erwachsenen nicht sicher vorhersagen. Zum einen scheint dies damit zusammenzuhängen, dass einige Menschen eine ungewöhnlich starke psychische Widerstandskraft (Resilienz) besitzen, die es ihnen erlaubt, frühkindliche Benachteiligungen wettzumachen. 20 (Selbst bei einem Drittel der Menschen, die als Kinder sexuell missbraucht wurden, sind keine nennenswerten negativen Folgen festzustellen.) Zum anderen hat es schlicht damit zu tun, dass das Leben kompliziert ist. Ein Kind, das unsicher an seine Mutter gebunden war, lernt vielleicht durch einen Mentor oder eine Tante, wie man Beziehungen knüpft. Manche Kinder besitzen die Fähigkeit, andere Menschen als Bindungspersonen zu »benutzen«, wenn ihre Eltern in dieser Aufgabe versagen. Trotzdem legen diese frühkindlichen Bindungsstile eine Art Weg an; sie begünstigen ein unbewusstes Arbeitsmodell davon, wie die
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