Das soziale Tier
hindurcharbeitete, konnte man alte Brezeln, Safttüten, Spielzeugautos, Pokemon-Karten, PSP-Spiele, vereinzelte Zeichnungen, alte Hausaufgaben, Arbeitsblätter aus dem letzten Schuljahr, Äpfel, Kieselsteine, Zeitungen, Scheren und ein paar Kupferrohre finden. Der Rucksack wog etwas weniger als ein Volkswagen.
Julia zog Harolds Hausaufgabenmappe aus den Trümmern heraus. Es heißt, die Geschichte wiederhole sich in Zyklen. Das gilt auch bezüglich der Philosophie von Schulaufgaben-Heftern. In manchen Zeiten ist das Ringbuch in Mode, dann wieder setzt sich der Schnellhefter durch. Die bedeutendsten Erziehungswissenschaftler der Welt diskutieren über die Vorzüge jedes Systems, wobei sich ihre Präferenzen nach irgendeinem astrologischen Kreislauf zu verändern scheinen.
Julia fand sein Aufgabenblatt, und resigniert stellte sie fest, dass die nächsten 65 Minuten dafür draufgehen würden, die zehnminütige Aufgabe zu erledigen. Die Projektanforderungen waren minimal – Harold brauchte lediglich eine Schuhschachtel, sechs bunte Filzstifte, Zeichenpapier, eine 90 Zentimeter hohe Tafel, Leinöl, Ebenholz, den Zehennagel eines Dreizehen-Faultiers und etwas Glitterkleber.
Julia ahnte dunkel, was Forschungen von Harris Cooper von der Duke University bestätigen: Es besteht nur ein geringer Zusammenhang zwischen der Menge der Hausaufgaben, die Grundschüler machen, und ihrem Abschneiden bei Prüfungen oder anderen Leistungstests. 1 Sie vermutete auch, dass diese abendliche Hausaufgabentortur andere Ziele verfolgte – nämlich Eltern davon zu überzeugen, dass ihre Kinder eine angemessen strenge Ausbildung erhielten; Kinder auf ihr künftiges Leben als geistig unterdrückte Drohnen vorzubereiten beziehungsweise, positiver formuliert, Kindern jene Disziplin des Wissenserwerbs beizubringen, die sie in ihrem späteren Leben brauchen würden.
Gefangen in dem von hohem Leistungsdruck geprägten Erziehungsverhalten, das Angehörige von Julias Gesellschaftsschicht zwar verspotteten, aus dem sie aber dennoch meist nicht ausbrachen, rüstete sie sich für die Bestechung und Schmeichelei, die nun folgen würden. Im Verlauf der nächsten Minuten würde sie Harold mit einer ganzen Palette von in Aussicht gestellten Belohnungen – Goldsternchen, Bonbons, BMW s – dazu zu bringen versuchen, seine Hausaufgaben zu erledigen. Wenn dies – erwartungsgemäß – misslingen würde, würde sie zu drohen beginnen – er dürfe kein Fernsehen mehr schauen, sie würde ihm alle Computerspiele und Videos wegnehmen, ihn aus ihrem Testament streichen, ihn in einen Karton sperren und ihm nur Wasser und Brot zu essen geben.
Aber Harold zeigte sich unempfänglich für alle Drohungen und Anreize, entweder weil er noch nicht in der Lage war, langfristige Unannehmlichkeiten und vorübergehende Unlustgefühle vernünftig gegeneinander abzuwägen, oder weil er wusste, dass seine Mutter nicht ernsthaft die Absicht hatte, ihm das Fernsehen zu verbieten und sich so in die unangenehme Lage zu bringen, ihn die ganze Woche hindurch selbst unterhalten zu müssen.
So oder so zwang Julia Harold dazu, sich an den Küchentisch zu setzen und seine Hausaufgaben zu machen. Als sie ihm kurz den Rücken zudrehte, um sich ein Glas Wasser zu holen, reichte ihr Harold 7,82 Sekunden später ein Blatt Papier und behauptete, er sei fertig. Julia blickte auf das Aufgabenblatt herunter, das aussah, als wäre es mit drei oder vier unleserlichen Zeichen in Alt-Sanskrit beschrieben.
Dies war der Beginn der allabendlichen Wiederholungsphase der Hausaufgaben. Julia erklärte ihm, er müsse die Aufgaben langsam und sorgfältig und möglichst auf Englisch abfassen. Harold protestierte wie gewöhnlich und begann lauthals zu lamentieren. Julia wusste, dass weitere 15 Minuten voller Aufruhr und Widerstreben vergehen würden, bis er endlich in der geistigen Verfassung sein würde, die Hausaufgaben zu erledigen. Es war, als müssten sie und Harold erst eine Phase von Widerstand und Krawall durchmachen, bevor Harold kapitulierte und innerlich so weit war, sich auf die Lösung der Aufgaben konzentrieren zu können.
Nicht selten wird heutzutage die Auffassung vertreten, dass Kinder wie Harold durch die absurden Fesseln, die ihnen die Zivilisation auferlegt, in ihrer freien Entfaltung nachhaltig gestört werden. Die Anpassungszwänge einer überdrehten Gesellschaft wirken sich negativ auf die Erfahrungsoffenheit und Kreativität unserer Kinder aus. Der Mensch wird frei geboren, aber
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