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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Aufgaben vorbereitet, sodass sie sich geistig viel weniger anstrengen müssen, um Spitzenleistungen zu erbringen. Sie können auch viel besser vorhersehen, was geschieht. Salvatore Aglioti, ebenfalls von der Universität Sapienza, stellte eine Gruppe von Basketballspielern und Nicht-Basketballspielern zusammen und zeigte ihnen Filme, auf denen Freiwürfe zu sehen waren. Die Filme wurden unmittelbar nachdem der Ball die Hand verlassen hatte angehalten, und die Sportler sollten abschätzen, ob der Ball in den Korb ging. Die Basketballspieler waren viel treffsicherer in ihrer Einschätzung. Das kam daher, dass sie jene Gehirnareale aktivierten, die die Bewegungen der Hand und der übrigen Muskulatur steuern. So wiederholten sie den Freiwurf in ihrer Fantasie und hatten dabei das Gefühl, sie würden die Handlung selbst ausführen. Kurzum, Profispieler erleben sportliche Aktivitäten anders als Nichtprofis. 14
    In 95 Prozent der Fälle funktionierte Ericas mentale Selbstkontrolle. In ihrem vorletzten Jahr auf der Academy hatte sie weniger Ängste, und sie spielte besser. Es gab jedoch noch immer Situationen, in denen sie die Fassung verlor. Sie spürte, wie der Dämon der Wut seine Fesseln abstreifte und kurz davor stand, auszurasten.
    Auch dafür hatte sie jetzt ein Ritual. Sie dachte über ihre Wut nach und sagte zu sich: »Das bin nicht ich. Das geschieht mit mir.« Sie stellte sich einen Grasplatz vor. Auf der einen Seite befand sich der kläffende Hund ihrer Wut. Auf der anderen Seite befand sich die Tennisspielerin, die die letzten fünf Spiele gewonnen hatte. Sie stellte sich vor, wie sie von dem Hund weg und hinüber zu der Tennisspielerin ging.
    Sie versuchte den richtigen Abstand zwischen sich und die Welt zu bringen. Sie praktizierte jene Form der Selbstüberwachung, die Daniel J. Siegel »Innenschau« nennt. 15 Sie erinnerte sich daran, dass sie maßgeblichen Anteil daran hatte, welches ihrer Ichs ihr Verhalten bestimmte. Dazu musste sie ihre Aufmerksamkeit lediglich auf einen der beiden Wesenszüge konzentrieren. Das war nicht leicht. Manchmal erforderte die Fokussierung der Aufmerksamkeit eine enorme mentale Kraftanstrengung. Aber es war machbar. William James gehörte zu den Ersten, die verstanden, welche Bedeutung derartige Entscheidungen haben: »Das ganze Drama willkürlicher Lebensäußerungen hängt von dem – geringfügig höheren oder geringeren – Grad an Aufmerksamkeit ab, den konkurrierende Bewegungsvorstellungen erhalten. […] Die Fokussierung der Aufmerksamkeit ist somit das zentrale Phänomen des Willens.« 16 Wer in der Lage ist, seine Aufmerksamkeit mit Hilfe von Gewohnheiten und Strategien zu kontrollieren, der kann sein Leben kontrollieren.
    Mit zunehmendem Alter gelang es Erica immer besser, die Aufmerksamkeit von einem Impuls auf den anderen zu lenken und verschiedene mentale Modelle zu aktivieren. Es schien wahrscheinlicher, dass die Orchidee erblühen würde.
    Inspiration
    Nach einigen Jahren auf der Academy hatte sie sich verändert. Die Kehrseite davon war, dass sie sich ein wenig von den alten Freunden in ihrer Nachbarschaft und auch von ihren Eltern entfremdet hatte. Diese glaubten, sie wäre einer Sekte beigetreten. Die gute Nachricht war, dass sie gelernt hatte, hart zu arbeiten.
    Eines Tages besuchte eine Hispanoamerikanerin mittleren Alters die Academy. Die Frau war Inhaberin einer landesweiten Restaurantkette. Sie war dünn, trug einen eleganten Hosenanzug und war außerordentlich ausgeglichen. Erica war fasziniert. Sie konnte sich erstmals vorstellen, dass ein Weg von ihrem gegenwärtigen Leben zu dem gehobenen Lebensstil jener Frau führte. Schließlich war jene Frau diesen Weg gegangen.
    Mit einem Mal war Erica von dem brennenden Verlangen erfüllt, Managerin zu werden. In kürzester Zeit wurde so aus einer normalen, fleißigen und strebsamen Academy-Schülerin ein Mitglied des Klubs der Hochambitionierten. Sie kaufte sich einen Terminplaner und unterteilte ihren Tag in farblich gekennzeichnete Blöcke. Nach und nach veränderte sie ihre Garderobe. Ihre Kleidung war so streng, korrekt und adrett, dass sie aussah wie Doris Day in arm. Irgendwie gelangte sie in den Besitz eines gebrauchten Schreibtischsets und unterteilte ihre Aufgaben in einen Posteingang und einen Postausgang. Es war, als wäre ihr ganzes Wesen plötzlich vom schweizerischen Nationalcharakter durchdrungen. Sie war akribisch, diszipliniert und karriereorientiert. Irgendetwas hatte den Motor des Ehrgeizes

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