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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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dies geschieht, können Verstand und Wille viel leichter ihre Aufgabe erfüllen, die angemessene Handlung in die Tat umzusetzen.
    So betreten zum Beispiel manche Schüler ein Klassenzimmer ohne den angebrachten Respekt für den Lehrer, der sich gerade dort aufhält. Wenn sie wütend werden oder frustriert sind, beschimpfen sie den Lehrer, ignorieren oder demütigen ihn oder sie schlagen ihn sogar oder werfen einen Stuhl nach ihm. Andere Schüler wiederum betreten das Klassenzimmer mit einem automatischen Respekt für den Lehrer. Sie wissen, ohne darüber nachzudenken, dass er eine Autoritätsperson ist, der man mit Achtung begegnen sollte – dass man sich vor einem Lehrer in einer bestimmten Weise benimmt. Vielleicht sind sie wütend, oder sie ärgern sich, aber sie werden diese Gefühle nicht im Klassenzimmer zum Ausdruck bringen. Es würde ihnen nie einfallen, rumzugrölen, zu fluchen oder einen Stuhl nach dem Lehrer zu werfen. Und wenn jemand dies in ihrer Anwesenheit täte, würde ihnen vor Schreck und Entsetzen der Atem stocken.
    Woher kommt dieser unwillkürliche Respekt? Wie kommt es, dass der bloße Anblick des Lehrers bestimmte Parameter in ihnen wachruft? Die Antworten darauf sind irgendwo im mitternächtlichen Strom des Unbewussten verloren gegangen. Jedenfalls haben diese Schüler im Verlauf ihres Lebens bestimmte Erfahrungen gemacht. Vielleicht haben sie die Autorität ihrer Eltern respektieren gelernt und erweitern jetzt diesen mentalen Rahmen auf Autoritätspersonen im Allgemeinen. Vielleicht haben sie Geschichten in sich aufgenommen, in denen Menschen vorkamen, die Lehrer in einer bestimmten Weise behandelten. Vielleicht haben sie sich Gewohnheiten und Normen über das Verhalten im Unterricht angeeignet, die jene Verhaltensweisen, die sie dort als unannehmbar betrachten, im Zaum halten. Aus diesen zahllosen Einflüssen ist ein bestimmtes Wahrnehmungsmuster, eine bestimmte Sichtweise hervorgegangen. Nachdem sie einmal gelernt haben, einen Lehrer in einer bestimmten Weise zu sehen, kämen sie nie auch nur auf den Gedanken, ihn ins Gesicht zu schlagen, außer im Reich der Fantasie vielleicht.
    In ähnlicher Weise lernen moralisch integre Menschen, das Eigentum von anderen auf eine Weise zu betrachten, die die Versuchung reduziert, sich dieses widerrechtlich anzueignen. Sie lernen, ein Gewehr auf eine Weise anzugucken, die die Versuchung reduziert, es zu missbrauchen. Sie lernen, junge Mädchen auf eine Weise zu sehen, die die Wahrscheinlichkeit sexueller Übergriffe verringert. Sie lernen, die Wahrheit auf eine Weise zu betrachten, die die Versuchung, zu lügen, reduziert.
    Dieses Modell des »Lernens, die Dinge auf eine bestimmte Weise zu sehen« geht davon aus, dass unser Charakter nicht durch ein einzelnes prägendes Ereignis, einen einzigen kritischen Augenblick geformt wird, sondern dass der Charakter ganz allmählich aus dem rätselhaften Wechselspiel einer Unzahl positiver kleiner Einflüsse hervorgeht. Dieses Modell unterstreicht die Bedeutung des sozialen Umfeldes für die Charakterbildung. Es ist sehr schwer, sich ganz allein aus eigener Kraft Selbstbeherrschung beizubringen (wenn alle Menschen in Ihrem Umfeld fettleibig sind, dann wird es sehr schwer für Sie sein, als Einziger dünn zu bleiben). 12 Es unterstreicht auch die Bedeutung, die kleine, scheinbar unbedeutende, aber häufig wiederholte Handlungen haben, weil sie zu einer Neuverschaltung in grundlegenden neuronalen Netzwerken des Gehirns führen. Scheinbar nebensächliche Gewohnheiten und angemessene Umgangsformen verstärken bestimmte positive Sichtweisen der Welt. Gutes Benehmen stärkt bestimmte Netzwerke. Aristoteles hatte Recht, als er sagte, dass wir Tugenden dadurch erwerben, dass wir sie zunächst einmal in die Tat umsetzen. Die Leute bei den Anonymen Alkoholikern drücken diese Auffassung mit ihrem Leitsatz »Tu so als ob, bis du es wirklich kannst« etwas pragmatischer aus. Timothy Wilson von der University of Virginia formuliert es etwas wissenschaftlicher: »Es gehört zu den grundlegenden Erkenntnisse der Sozialpsychologie, dass Verhaltensänderungen oftmals Einstellungs- und Gefühlsänderungen vorangehen.« 13
    Revanche
    In den Tagen und Wochen nach ihrem Wutausbruch sahen viele Menschen Erica irgendwie merkwürdig an. Und Erica verstand sich selbst ja auch nicht. Doch die Monate vergingen. Der Besuch der Academy bedeutete, dass man tausend kleine Regeln befolgen musste. Man beginnt nicht zu essen, bevor nicht alle am

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