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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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könne, dass Ehebruch Familien zerstöre und Lügen Vertrauen kaputtmache. Man nahm an, dass Menschen, wenn man sie an die negativen Folgen ihres Verhaltens erinnere, bestrebt wären, damit aufzuhören.
    Sowohl der Verstand als auch der Wille spielen bei der moralischen Entscheidungsfindung und bei der Selbstbeherrschung eine wichtige Rolle. Aber keines dieser Charaktermodelle hat sich als sonderlich erfolgreich erwiesen. Man kann Menschen raten, keine Pommes frites zu essen. Man kann ihnen Broschüren über die Risiken der Fettleibigkeit geben. Man kann ihnen Moralpredigten halten und sie ermahnen, sich zu beherrschen. Wenn sie gerade nicht hungrig sind, werden die meisten Menschen auch geloben, fortan auf Pommes frites zu verzichten. Wenn aber ihr hungriges Selbst erwacht, verblassen die guten Vorsätze und sie essen sie wieder. Die meisten Diäten schlagen fehl, weil die bewussten Verstandes- und Willenskräfte schlichtweg nicht stark genug sind, um unbewusste Triebregungen konsequent in Schach zu halten.
    Und wenn dies schon für das Essen von Pommes frites gilt, dann gilt es erst recht für wichtigere Dinge. Prediger wettern gegen das Übel des Ehebruchs, aber das scheint keinerlei Auswirkungen auf die Zahl der Menschen in ihrer Gemeinde zu haben, die Ehebruch begehen – beziehungsweise auf die Zahl der Prediger, die dies tun. Über die Sünde der Habgier wurden Tausende von Büchern geschrieben, dennoch greift diese Gier alle paar Jahre in einer selbstzerstörerischen Weise um sich. Es besteht nahezu weltweites Einvernehmen darüber, dass materieller Konsum weder Freude noch Erfüllung mit sich bringt, und trotzdem häufen Millionen von Menschen gewaltige Kreditkarten-Schulden an. Jeder weiß, dass es falsch ist, einen anderen Menschen zu töten, trotzdem kommt es immer wieder zu Völkermord. Terroristen reden sich ein, die Ermordung von Unschuldigen lasse sich moralisch rechtfertigen.
    Jahrzehntelang haben Menschen versucht, Drogenabhängige über die Gefahren der Sucht zu informieren; Teenager über die Risiken von ungeschütztem Geschlechtsverkehr aufzuklären; Schüler über die negativen Folgen eines Schulabbruchs. Aber Studien belegen zweifelsfrei, dass Aufklärungs- und Informationsprogramme kaum Verhaltensänderungen bewirken. So zeigte beispielsweise eine Untersuchung aus dem Jahr 2001, in die über 300 Sexualerziehungsprogramme einbezogen wurden, dass sich diese Programme im Allgemeinen nicht auf das Sexualverhalten oder den Gebrauch von Verhütungsmitteln auswirkten. 11 Klassenunterricht oder Bewusstseinsbildung in Seminaren haben keine nennenswerten direkten Auswirkungen auf unbewusste Impulse. Auch Moralpredigten helfen nicht.
    Die empirischen Befunde deuten darauf hin, dass Verstand und Wille wie Muskeln sind, und zwar keine besonders kräftigen Muskeln. In manchen Fällen und unter gewissen Umständen können sie Verlockungen widerstehen und Impulse kontrollieren, aber in vielen Fällen sind sie einfach zu schwach, um sich aus eigener Kraft Selbstdisziplin aufzuerlegen. In vielen Fällen übernimmt stattdessen die Selbsttäuschung die Regie.
    Die Charakterbildungskonzepte im 19. und 20. Jahrhundert waren deshalb so unzulänglich, weil sie von einer gemeinsamen Grundannahme ausgingen: dass der erste Schritt in einem Entscheidungsprozess – der Akt der Wahrnehmung – ein vergleichsweise einfacher Vorgang sei, bei dem eine Situation mit den Sinnesorganen erfasst werde. Wirklich wichtig seien die Auswahl der richtigen Handlungsweise und die für deren Ausführung notwendige Willenskraft.
    Aber wie mittlerweile klar sein sollte, ist das falsch. Denn der erste Schritt ist tatsächlich der wichtigste. Wahrnehmen ist nicht bloß eine transparente Weise des Erfassens der Umwelt, es ist ein komplexer kognitiver Prozess. Sehen und Bewerten sind keine getrennten Vorgänge, sondern sie sind miteinander verknüpft und laufen im Grunde gleichzeitig ab. Die Forschungen der letzten 30 Jahre lassen den Schluss zu, dass sich einige Menschen selbst beigebracht haben, sozusagen geschickter wahrzunehmen als andere. Die Person mit einem guten Charakter hat sich selbst beigebracht – oder sie hat es durch die Menschen in ihrem Umfeld gelernt –, Situationen »richtig« wahrzunehmen. Wenn sie etwas richtig sieht, hat sie sozusagen das Spiel zu ihren Gunsten manipuliert. Sie hat ein ganzes Netzwerk von unbewussten Urteilen und Reaktionen ausgelöst, und dies lässt sie in einer ganz bestimmten Weise handeln. Sobald

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