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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Tisch Platz genommen haben. Leg immer zuerst die Papierserviette auf deinen Schoß. Steh immer auf, wenn ein Lehrer das Zimmer betritt. Kaue kein Kaugummi, wenn du Uniform trägst, auch wenn du bloß auf dem Heimweg bist. Schüler der Academy benehmen sich einfach nicht so.
    Diese Regeln wurden Erica, wie fast allen Schülern, zur zweiten Natur. Sie stellte fest, dass sich ihre Ausdrucksweise änderte, insbesondere wenn sie Fremde ansprach. Sie bemerkte, dass ihre Körperhaltung eine andere wurde und sie einen fast militärischen Habitus annahm.
    Bei diesen kleinen Routinen ging es fast immer auf die eine oder andere Weise um Selbstdisziplin. Es ging darum, zu lernen, Gratifikationen aufzuschieben oder in einer kleinen Sache Selbstbeherrschung zu üben. Erica war sich dieser Bedeutung vermutlich gar nicht bewusst, für sie waren die Rgeln einfach der normale Verhaltenskodex aller Schüler. Dennoch wirkten sie sich nachhaltig auf ihr Verhalten in der Schule, zu Hause und auch auf dem Tennisplatz aus.
    Im vorletzten Schuljahr war Erica nicht mehr so besessen vom Tennis, aber sie hatte jetzt einen Weg gefunden, sich mental auf jedes Spiel vorzubereiten. Dabei setzte sie das praktisch um, was man die »Lehre von der indirekten Selbstkontrolle« nennen könnte. Sie beeinflusste die kleinen Dinge, um die richtigen Reaktionen im Großen auszulösen.
    Vor einer Partie saß sie auf der Bank und spielte in ihrem Kopf die Stimmen von Piloten ab, die sie hauptsächlich aus Filmen kannte. Wenn sie durch die Sprechanlage an Bord sprachen, hatten sie dabei immer so eine bedächtige, ruhige Stimme. Dadurch versetzte sie sich in die richtige innere Einstellung. Anschließend vollzog sie vor jedem Match eine Reihe kleiner Rituale und Gewohnheiten: Stell deine Wasserflasche immer an dieselbe Stelle in der Nähe des Netzes. Leg deine Schlägerhülle immer mit derselben Seite nach oben unter deinen Stuhl. Trag immer dieselben ungleichen Schweißbänder am Handgelenk. Tritt auf dem Weg zum Tennisplatz immer über die Linien. Ziehe mit dem rechten Schuh immer eine Linie an der Stelle, von der aus du aufschlagen wirst. Versuche immer fünf Asse hintereinander zu schlagen. Wenn du dir nicht sicher bist, ob du wirklich fünf Asse schlagen kannst, dann tu wenigstens so. Wenn dein Körper lange genug eine bestimmte Haltung nachahmt, gewöhnt sich das Gehirn daran.
    Sobald Erica auf dem Platz war, befolgte sie ihre eigenen strengen Regeln. Ihre Welt bestand aus genau zwei Orten: auf dem Platz und jenseits des Platzes. Die Welt jenseits des Platzes diente dazu, über Vergangenheit und Zukunft nachzudenken; der Platz war dazu da, über die Gegenwart nachzudenken. Unmittelbar vor ihrem Aufschlag dachte Erica nur an drei Dinge: Spin, Aufschlagstelle und Geschwindigkeit. Falls sie sich dabei ertappte, an etwas anderes zu denken, trat sie einen Schritt zurück, ließ den Ball ein paar Mal aufspringen und fing dann wieder an.
    Erica gestattete es sich nicht, sich ein Bild von ihrer Gegnerin zu machen, und sie dachte auch nicht an Schläge ins Aus. Ihre Leistung würde sich allein danach bemessen, wie der Ball ihren Schläger verließ, alles andere entzog sich ihrer Kontrolle. Nicht ihre Persönlichkeit stand im Mittelpunkt, nicht ihr Talent, nicht ihr Ego und auch nicht ihr Selbstwertgefühl. Es war einzig und allein die Aufgabe, die zählte.
    Dadurch, dass Erica die Aufgabe so in den Mittelpunkt stellte, konnte sie ihr bewusstes Selbst beruhigen. Sie konnte ihre Aufmerksamkeit von ihrem Zustand – ihren Erwartungen, ihrer Anspannung, ihrem Ruf – ablenken und sich ganz ins Spiel versenken. Sie konnte sich davon abhalten, zu viel nachzudenken, denn das verhindert, dass man Spitzenleistungen erbringt. Sie verschmolz mit den spezifischen Mustern dieser Sportart. So konnte sie auf die vielen praktischen Übungsstunden zurückgreifen, in denen sie Schlagtechniken ständig wiederholt und dadurch gewisse mentale Modelle in sich verankert hatte. Und wenn sie dies tat, war ihre Selbstbeherrschung fulminant, und nichts konnte sie aus der Fassung bringen.
    Wenn Sportler ein Spiel wie Tennis, Baseball oder Fußball spielen, laufen in ihrem Gehirn komplexe Zyklen der Wahrnehmung, erneuten Wahrnehmung und Korrektur ab. Claudio Del Percio von der Sapienza Università di Roma hat herausgefunden, dass die Gehirne von Spitzensportlern, die sich mit schwierigen Aufgaben befassten, »stiller« waren als die Gehirne von Nichtsportlern. Sie haben sich mental auf diese

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